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Dienstag, 29.6.

Der Morgen begrüßt uns mit wolkenlosem Himmel, der Wetterbericht hat Wort gehalten. Unser Gastgeber ist schon unterwegs zu einem Termin in Stendal. Frau B. bewirtet uns mit einem schönen Frühstück, dann brechen wir auf mit ungewissem Ziel. Um nicht wieder eine Gewalttour zu machen, haben wir die Stadt Wittstock, 80 km nördlich, ins Visier genommen. Ob es da schön ist oder aber wie in Rathenow, kann man uns nicht sagen.

Von der Bundesstraße 102 biegen wir bald rechts ab auf eine stille Waldstraße, zwei Betonspuren verschonen uns vor dem Sand. Kilometerweit geht es durch einsame Wälder. Ländchen Rhinow nennt sich die Gegend, im Norden begrenzt durch die Rhinower Berge, da ist ein 96er dabei, wie ich Herr B. ausdrückte. Vor dem Örtchen Stölln befindet sich der älteste Flugplatz der Welt. Kaum zu glauben, aber das liegt daran, daß hier der Flugpionier Otto Lilienthal die günstigen Aufwinde ausnützte und im Jahre 1896 seine Flugversuche mit bis zu 350 m Weite veranstaltete. Einer davon - der letzte - endete mit dem Absturz und Tod des Wagemutigen.

Inzwischen hat man sich eine weitere Attraktion einfallen lassen. Als eine sowjetische Verkehrsmaschine vom Typ Iljuschin ausgemustert wurde, hat man sie mit einigem Risiko auf einem Berg gelandet. Da steht sie nun und wird für originelle Hochzeiten und andere gesellschaftliche Veranstaltungen benutzt. Disneyland ist überall, auch im Ländchen Rhinow.


Kunst für Otto Lilienthal

Die Iljuschin im Maisfeld

Otto Lilienthals Schicksalsberg
Noch sind wir gar nicht in Mecklenburg, sondern im Land Brandenburg. Wir durchfahren den Rhingraben, ein eiszeitliches Urstromtal. Über einen Wassergraben schweift der Blick zurück auf Otto Lilienthals Schicksalsberg.

Rings um uns ist es tiefgrün, meistens Viehweiden von Gräben durchzogen. Eine Brücke über den alten Rhin, der ist kanalisiert. Durch Dreetz geht es nach Neustadt. Dort spendieren wir uns in einem Straßenlokal ein Würstchen. Nur ab und zu zucken wir zusammen, wenn eine elektronische Schaukelmaschinerie neben uns eine melodische Tonfolge erklingen läßt.


Wusterhausen
Wenig später erreichen wir wieder einen reizvollen Ort: Wusterhausen am Klempow See. Eine trutzige Kirche, ein schneeweißes Rathaus, Marktgetriebe. Ich kaufe einen neuen Film, dann geht es am Klempower See entlang.

Die vielen Wurzeln auf dem Uferweg lassen uns aber bald wieder auf die Straße flüchten. In Bantikow ist ein Reiterhof, den weiteren Teil der unbefestigten Straße hat man eifrig als Reitweg zweckentfremdet. Wir schieben. Ein Mädchen übt mit einem Pferd das Gehorchen, das klappt nicht so richtig. "Die hat Angst vor'nm Gelände" erfahren wir, als wir uns vorbeidrücken.

Bevor Heidi so richtig ins Meckern kommt, erreichen wir zum Glück wieder eine befestigte Straße, die nun schnurgeradeaus durch die Wälder führt. In Lellichow machen wir Kaffeepause. Um der Landstraße zu entgehen biegen wir nochmal auf eine sandige Nebenstrecke ab. An einem kleinen Gewässer liegt ein malerisches Restaurant. Ein Seniorenverein strebt gradlinig von einem Bus in das Lokal. Wir schieben durch den Sand einen Berg hinauf.

Von Königsberg mit gleichnamigem See kehren wir dann doch reumütig unter Vermeidung weiterer sandiger Unannehmlichkeiten zur Landstraße zurück. Die Autobahn Berlin - Hamburg wird überquert. Nach 80 km sind wir noch vor 16 Uhr in Wittstock. Der Blick auf einen Stadtplan am Straßenrand verheißt Gutes: eine Stadtmauer, Stadttore, ein historischer Ortskern. Ein großes I weist uns zur Information und Quartiervermittlung im Amtsturm mit angeschlossenem Museum. "Bin bis 16 Uhr bei einer Stadtführung" steht auf einem Zettel.

Zwei Frauen kommen vorbei, wir kommen ins Gespräch. "Das ist ja eine schöne Stadt hier" machen wir unser Kompliment. "Oh ja," antworten sie, "deswegen kriegt uns hier auch keiner weg!" Wir beglückwünschen uns jetzt schon zu der Wahl dieses Ortes als Etappenziel. Erstmal warten wir auf die Informationsdame. Wir haben ja Zeit wie Heu und setzen uns auf eine Bank im angrenzenden Wallgelände. "Wollen Sie zu mir?" tönt es über eine Hecke. Unsere bepackten Fahrräder haben uns verraten.

Nun versorgen wir uns mit Informationsmaterial über das "Rothenburg des Nordens". Ein Privatquartier bekommen wir nicht, aber ein schönes Zimmer zum Marktplatz raus im Hotel Deutsches Haus. Nicht gerade billig, aber alles ist neu gemacht und seinen Preis wert. Als mir der Zimmerschlüssel überreicht wird, protestiere ich: "Der Schlüssel fehlt ja!". Es handelt sich um eine Magnetkartenanlage, sowas kennen wir Wessis eben noch nicht.


Marktplatz von Wittstock
Das Abendprogramm: Bummel über den Markt, durch die Stadt, an der Stadtmauer entlang. Abendessen im Zum Stern. Ein Bierchen (Lubzer) im Cafe Beroun am Marktplatz. Es ist warm, wir sitzen draußen bis Zapfenstreich. Ein Angestellter erscheint, umwickelt mit Ketten, mit denen er laut rasselnd die Gartenmöbel abschließt. Am Nebentisch sitzen zwei jüngere Leute über Baupläne gebeugt und fingern was aus. Aus dem Inneren des Lokals kommt eine vierköpfige Gruppe mit Aktentaschen, man verabschiedet sich geschäftsmäßig verbindlich. Auch da ist wohl was ausbaldowert worden.

Nun liegt Wittstock am Autobahndreick Hamburg - Rostock - Berlin. Im Westen der Stadt hat man große Industrieflächen angelegt und wirbt um Investoren. Da gibt es wohl manches zu verhandeln.

Im Hotel bekommen wir noch ein weiteres Bierchen, das ist ganz was besonderes, ein tschechisches Produkt aus Prag. Leider haben wir uns den Namen nicht gemerkt (Budweiser oder Urquell war es nicht).

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