Das alte Europa


Eine Radreise auf 7 Routen
Kyll, Saar, Vogesen, Schweizer Jura, Rhone, Rhein, Elsass

Vorneweg wieder mein Dank an Wind und Wetter und vor allem an die Familie und Hund Otto, die mich wieder einmal ziehen ließen. „Der Papa braucht das“ heißt es da, und dem soll man nicht widersprechen.

Das alte Europa ist nicht das, wofür es aus zweifelhaftem Anlass ein amerikanischer Verteidigungsminister hält, sondern das, wohin jene Amerikaner, aber auch die Japaner – wie wir sehen werden – gerne reisen: Heidelberg, Rothenburg ob der Tauber oder die Romantische Straße – und... na, lasst euch überraschen!

Meine Reise ist diesmal nicht von Küsten und Meeren bestimmt, sondern führt mehr landeinwärts. Zuerst wollte ich so was wie den Jakobsweg fahren, von dessen zahlreichen Zweigen einer in Aachen beginnt. Also starte ich in Aachen. Den Weg aber bestimme ich selbst!

1. Tag: Do, 3.6. Aachen – Kronenburg, 85 km

Der Zug fährt in Braunschweig kurz vor 7 Uhr in der Frühe ab, umsteigen in Dortmund, um 12.07 ist man in Aachen. Gleich hinter dem Bahnhof geht es los, auf der Straße nach Eupen in Belgien. Auf Radwegen neben der Straße geht es leicht bergauf, bis man die belgische Grenze erreicht. Die ist seit dem Schengener Abkommen auch nicht mehr das, was sie mal war. Keine Kontrollen, nur ein paar Obst- und Gemüsestände oder so was. Es gibt ein schönes Buch von Andreas Greve: „In achtzig Tagen rund um Deutschland“. Da wird die jeweilige Situation an den deutschen Grenzen (auch der Region Eupen – Malmedy) interessant geschildert. Der ist allerdings mit dem Wohnmobil gefahren, manchmal auch mit Boot oder Roller. Ich muss mich leider mit dem Verkehr und knapp überholenden Schwerlastern rumschlagen.

In Eupen ist ein ordentlicher Trubel, ich mache Rast und ein paar Fotos. „Wollen sie hier parken?“ fragt mich eine Frau, vor deren Auto mein Fahrrad kurz abgestellt ist. „Nein, ich bin gleich wieder weg“. Über die Geschichte Eupen – Malmedy gäbe es viel zu berichten. Hier hat man mehrmals die Seiten zwischen deutscher und belgischer Staatszugehörigkeit gewechselt. Es scheint, man spricht hier durchweg deutsch mit Kölner Dialekt.

Soviel zu Eupen. Malmedy lasse ich weg, damit ich heute noch mein Ziel an dem Fluss Kyll erreiche. Dazu geht es erst mal über das Hohe Venn, eine Stunde bergauf, bei mäßiger Steigung. Hier gibt es Hochmoore und ausgedehnte Naturschutzgebiete. Leider ist es zu diesig, um Blicke in die Ferne werfen zu können. Am Signal de Botrange hat man so an die 600 m Höhe erreicht, und von nun an geht’s bergab. Ich finde eine ruhige Nebenstrecke über die Dörfer. Dazu benutze ich eine Radwanderkarte aus einem Satz für ganz Deutschland im Maßstab 1:100.000 „Hunsrück Eiffel“. Die gab es kürzlich bei ALDI im Angebot. Am Losheimer Graben erreicht man wieder die Grenze nach Deutschland. Es geht übrigens die ganze Zeit flott dahin, ich habe mal wieder Rückenwind. Und das wird sich in den nächsten Tagen auch nicht ändern.

Nun taucht der Kronenburger See auf und damit mein Tagesziel. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass der Ort Kronenburg hoch auf einem Berg liegt. Da heißt es noch einmal das Rad schieben. Aber es lohnt sich. Der alte Ort besteht nur aus einer Straße mit hübschen Häusern – rings herum ist neu gebaut, das ist weniger interessant. Ein Privatzimmer bekomme ich leider nicht – man liebt die Kurzübernachtungen nicht so. „Da muss man ja hinterher auch das ganze Zimmer machen“, meint eine Dame, nachdem sie mir vorgeflunkert hat, dass sie noch Gäste erwartet und ausgebucht sei. Nebenan ist das Restaurant und Hotel Eifelhaus. Da bekomme ich mein Zimmer mit schönem Ausblick, allerdings nicht ganz preiswert. Das Fahrrad wohnt über Nacht angeschlossen in der Tellgasse unterm Dach. Es gibt auch einen kleinen Hund, der heißt Anton, ist ein Retriever-Labrador und muss noch gehörig wachsen. Der will mir im Spielen gleich in die Hose beißen. „Lass das mal lieber – ich habe nur diese eine“.

Zum Abend gibt es Hausmachersülze mit Bratkartoffeln und Salat, mengenmäßig nicht ganz zu bewältigen, der Tank für das Fahrrad ist damit wieder gefüllt. Beim anschließenden Rundgang entdecke ich noch eine Schautafel über den Jakobsweg sowie den Aufgang zur Burgruine. Von der ehemaligen Burg ist nicht mehr viel übrig, ein längs halbierter Turmstumpf und ein paar Mauerreste. Den Rest des Abends verbringe ich am offenen Fenster, genieße die schöne Aussicht und das Blöken der Schafe bis es dunkel wird.

2. Tag: Fr, 4.6. Kronenburg - Trier, 115 km

Für den heutigen Tag steht die Kylltalroute, Länge ca. 100 km, auf dem Programm. Der Fluss Kyll ist recht unbekannt, genauso wie die Radroute durch sein Tal, die 1993 angelegt worden ist. Also ein Geheimtipp. „Links und rechts des Weges warten Mühlen, Burgen, Kirchen, Schlösser, Museen und malerische Eifeldörfer auf einen Besuch“ ist zu lesen. Eine kurvenreiche Eisenbahnroute windet sich außerdem durch das gesamte Tal (Deshalb wird in wenigen Wochen auch meine norwegischen Torenfreunde Turid und Terje hier entlang fahren).

Weniger vielversprechend ist heute der Regen. „Da wird es schon hell“ sage ich, als ich mich unter dem Regenumhang beim Hotel verabschiede. Da habe ich mich aber getäuscht, der Regen wird bis in den frühen Nachmittag anhalten. Da der Wind von hinten weht, ist das alles nicht so schlimm. Und es geht viel bergab von ca. 500 auf 130 Höhenmeter bei Trier. Doch es ist alles grau verhangen, die Nebelschwaden hängen in den Bergen und über den Wiesen. Da kann man die malerischen Ausblicke nicht so recht genießen, die Farben fehlen. Da trifft man mehr Weinbergschnecken auf dem Weg als gleichgesinnte Radfahrer. Da die Schnecken ein anderes Tempo bevorzugen, lassen sich Kollisionen vermeiden. Man passiert die Mineralwasserstadt Gerolstein, Burgen wie Bertradaburg oder Ramstein und so. Zweimal geht es auch durch beleuchtete Eisenbahntunnel, in denen man eine Spur für die Radfahrer angelegt hat - vorbildlich! Vor Trier kommen dann die unvermeidlichen Industriegebiete und man ist froh, am Schluss auf dem Moselradweg die Fußgängerzonen der Innenstadt zu erreichen. Vorher passiert man allerdings noch den Ort namens Pfalzel, da sieht es aus wie im Bilderbuch. Fachwerkhäuser und blumengeschmückte Giebel – auch in schöner Ort für eine Übernachtung.

Aber inzwischen irre ich in Trier herum. Ein Hotel mit dem Bett & Bike Zeichen ist verrammelt. So lande ich in dem Hotel Aulmann, wieder nicht so preiswert, dafür zentral in Trier gelegen. Das Restaurant Peking ist um die Ecke – man kennt mich ja, beim Chinesen blühe ich auf. „Haben sie auch Fassbier?“ „Was Bier?“. Na dann eben ein Fläschchen Bitburger oder so für 3.90 €. Das Essen aber ist super: Schweinefleisch süßsauer mit einer Fuhre Reis, da bleibt kein Krümchen über. Und ich bin zunächst der einzige Gast am Freitag-Abend - erstaunlich.

Beim Rundgang stolpert man alsbald über die Porta Nigra. Durch die muss man schon mal hindurch schreiten, wie es schon die alten Römer taten. Dom und Rathausplatz, dann ist Feierabend und beim Zappen durch die unzähligen TV-Programme erwische ich eine Reportage über Geschwindigkeitsrekorde zu Lande, wo durchgeknallte Abenteurer auf amerikanischen Salzseen mit raketengleichen Geschossen die Schallgeschwindigkeit  zu erreichen suchen. Ganz so schnell bin ich wohl nicht.

3. Tag: Sa, 5.6Trier - Sarreguimines, 135 km

Zuerst ist es heute wieder grau in grau, später wird dann die Sonne herauskommen und damit wird das schlechte Wetter erst mal überwunden sein. Der Wind weht immer noch von hinten. Es soll weiter gehen an der Saar, dazu gibt es einen bikeline Führer, den ich mir aus Gewichtsgründen natürlich nicht im Voraus besorgt habe. In Trier haben morgens die Buchläden noch nicht geöffnet. Zuerst geht es gut ausgeschildert auf dem Mosel-Radweg aus Trier heraus. Bei der Stadt Konz mündet die Saar in die Mosel. Noch immer habe ich keinen Buchladen gefunden, trotzdem ist es eine schöne Strecke und der Weg nicht zu verfehlen. Bei Kanzern hat man eine Saarschleife durch einen Kanal reguliert. Schöner fährt es sich aber außen rum, auch wenn das die längere Strecke ist. Schließlich gelangt man nach Saarburg, eine malerische Stadt. Die muss erst mal besichtigt werden und einen Buchladen gibt es dort auch endlich. Spektakulär aber ist ein Wasserfall mit alten Mühlrädern unterhalb der Stadt, man kann sich das ganze von oben anschauen. Die vier Fotos, die ich dort von der Szenerie mache, lassen sich nur schwer zusammensetzen (wenn überhaupt...).

Nun sind wir komplett versorgt und es geht immer an den grünen und gewundenen Ufern der Saar entlang. Hinter der Stadt Mettlach kommt dann die berühmte Saarschleife, wo der Fluss eine Wendung um 180 ° macht. An der Schleifenspitze ist hoch oben der Aussichtspunkt Cloef, von wo aus man das bekannte Postkartenfoto der Saarschleife schießen kann. Von hier unten geht das natürlich nicht. Ich habe aber ein Bild aus dem Internet geklaut, hoffentlich merkt es keiner.

Dann wird das Tal weiter und die bewaldeten Hänge weichen zurück. In Saarlouis mache ich einen Abstecher in die Stadt um einzukaufen. Da ist alles abgesperrt und in der Innenstadt ist der Bär los: Stadtfest. Die Posten an den Absperrungen lassen den Radfahrer natürlich passieren. Nach dem Einkauf fahre ich wieder an ihnen vorbei: „Alles paletti“ sage ich. Beim Einpacken hatte ich übrigens eine Zecke auf meinen Gepäcktaschen gefunden, die soll nun in Saarlouis jemanden anderen beißen. Es war zum Glück die einzige Begegnung mit einem dieser gefährlichen Plagegeister (Borreliose).

Durch den günstigen Wind komme ich schnell voran. Das ist auch gut so, denn die Landschaft wird mehr und mehr durch Industrie geprägt. In der Gegend der Völklinger Hütte wird das geradezu fotogen. Zwei Fördertürme sichte ich auch noch, da wird die übermäßig subventionierte Saarkohle gefördert.

Dann ist man in Saarbrücken, das sollte eigentlich Tagesziel sein. Manchmal gefallen mir Städte nicht. Heute liegt das daran, dass auch hier ein Stadtfest (Familienfest) stattfindet. Außerdem ziehen überall grölende Schlachtenbummler mit Vereinsfahnen des FC Saarbrücken herum. Haben die gewonnen? Ich frage einen Knaben am Straßenrand: Saarbrücken hat gegen Schweinfurt 2:1 gewonnen und ist damit in die 2. Bundesliga aufgestiegen. Da muss ich nicht mitfeiern.

Daher fahre ich weiter in Erwartung der nächsten Übernachtungsmöglichkeit. Dazu fahre ich auf schöner Strecke schließlich über die Grenze zu Frankreich und lande in Sarreguimines - der deutsche Name ist einfacher: Saargemünd. Hier fließt der Fluss Blies in die Saar. Um ein Hotel zu finden, muss ich einen Passanten fragen. Ich lande dann im Aux Deux Etoiles und bekomme ein einfaches Zimmer ohne Frühstück. Bar zu bezahlen (29.- €), es wird nur eine französische Visakarte akzeptiert. Das war in unserem vereinten Europa aber auch das einzige Mal auf dieser Reise. Der Concierge (heißt das so? - nein, es heißt: "monseur d àccueil") kann kaum deutsch. Zimmerschlüssel nicht von innen stecken lassen – wird mir noch aufgetragen, wenn ich es richtig verstanden habe. Vielleicht falls es mal brennt? Ich könnte mich aus meinem Zimmer im 2. Stock aber auch auf die Straße hinunter hangeln. Dort ist ein brausender Verkehr, mit einem ruhigen Abend wird das nichts.

Ich hätte Lust auf eine Pizza, aber die Pizzeria ist nicht so vertrauenerweckend. Da ist aber noch das Restaurant Shanghai. Leider werde ich dort enttäuscht, das ist nicht zum Sattwerden. Die anderen Gäste bestellen daher auch mehrere Gerichte hintereinander. Ist das hier so üblich? Das geht doch ganz schön auf den Geldbeutel. Ich habe noch ein paar Joghurt und einen Teelöffel, die sind mir im vorherigen Hotel so zugeflogen. Die Nacht muss bei geschlossenem Fenster verbracht werden, schon früh am Morgen braust schon wieder der Verkehr.

4. Tag: So, 6.6. Sarreguimines - Sarrebourg, 80 km

Mit leerem Magen geht es los, da fühlt man sich nicht ganz so wohl. Ich habe aber noch Schokolade. Leider ist heute Sonntag und es gibt nichts zu kaufen. Außer bei Tankstellen, aber die liegen nicht an der Strecke.

Dafür ist Kaiserwetter, was will man mehr. Nun sieht man auch hier und da malerische Szenen, ein Mühlrad oder nette Ortschaften. Man fährt auf dem Saumpfad der kanalisierten Saar, ab und zu eine altertümliche Schleuse. Die französischen Sonntagsradfahrer rasen dahin, im Renndress auf Hightech Maschinen. Wo die alle so schnell hin wollen? Aber gegrüßt wird immer. In Zettin endet der Uferweg – oder es fehlt nur die Beschilderung. Ein Stück Landstraße, dann kommt man bei dem Ort Wittring raus. Um dorthin zu gelangen, gelingt es mir auf umständlichste Weise durch einen feuchten Tunnel zu tappen – mal wieder was anderes.

Danach folgt eine Schotterstrecke am Kanal, der heißt so was wie Canal Houlières de la Sarre. Bald wird der Wegebelag wieder besser. Der Kanal zweigt dann allerdings irgendwo ins Landesinnere ab. Wenn man nicht aufpasst – und so geht es mir – fährt man dann auf einmal in die falsche Richtung. Rechtzeitig umkehren ist angesagt. Damit sind wir in Sarre-Union angelangt, Mittagszeit. Gibt es ein Restaurant, um endlich das Frühstück nachzuholen? Mir sagt nichts zu, da sitzen schon zu viele Motorradfahrer herum. Wieder in der Botanik schiebe ich das Rad auf eine Streuobstwiese und setze mich in den Schatten. Die Schokolade ist schon bedenklich weich.

Bald darauf wird man einen steilen Berg hoch geschickt - schieben ist angesagt. Oben liegt wohl ein Forsthaus oder so was, das heißt Maison Forestière de Bischtroff. Da kommt man dann schweißgebadet an. Dafür geht es anschließend bei mäßiger Steigung flott bergab. An der gegenüberliegenden Talseite liegt ein Ort am Hang, der heißt Wolfskirchen. Der Ort ist wegen seiner erhöhten Lage lange zu sehen. In dem Ort Diedendorf verfahre ich mich dann bergab bei sausender Fahr, das heißt alles wieder zurück und hinauf, nachdem man den Irrtum bemerkt hat. Dabei hätte ich vorher bei der Rast an der Kirche genug Gelegenheit gehabt, die Karte genauer zu studieren.

Es folgt dann noch der Ort Fènètrange, da stehen auch ein paar alte Gemäuer herum. Um den heutigen Tag zeitig zu beenden, wähle ich die kürzere Strecke über den Herrenwald. Da hat man dann am höchsten Punkt eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt Sarrebourg, der Endstation des Saar-Radweges. Nun geht es nur noch bergab und bald ist man in der quirligen Stadt. Schnell habe ich die Touristeninformation gefunden, die hat heute am Sonntag sogar geöffnet. Man vermittelt mir ein Zimmer im Hotel-Restaurant Du Soleil Levant. Das sei vietnamesisch und man könne dort eben auch fernöstlich speisen. Das stört mich ja nun überhaupt nicht. Auch in diesem Ort findet wieder ein Stadtfest statt – wie immer am ersten Sonntag im Monat, so sagt man. Ob ich einen Blick in das Innere der Kapelle – die heißt Chapelle des Cordeliers – werfen wollte – da sei ein Glasfenster gestaltet von Marc Chagall. Das ist heute ausnahmsweise kostenfrei. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und komme zu einem gelungenen Foto von der Angelegenheit. Das Kunstwerk heißt „La Paix“ und wird als Monumentalwerk gepriesen. Irgendwie Adam und Eva umgeben von roten Blumen vor blauem Hintergrund. Und im Museum sei auch noch ein Gobelin von Chagall, dessen Besichtigung sei auch kostenfrei. Aber das wird mir dann doch zuviel.

Das Hotel liegt zwei Straßen weiter und ist schnell gefunden. Mit dem Rad fahre ich dann schnell zum Bahnhof, wo ich eine Michelinkarte der Vogesen bekomme. Nun kann ich die Weiterfahrt gebührend planen. Zu Abend gibt es Frühlingsrolle („Diese Empfehlung ist eine Gute“) und Porc Grillè mit Riz Nature. Dafür morgen früh kein Frühstück, weil Ruhetag ist. Da wird gleich abgerechnet und ich kann los, so früh ich will.

5. Tag: Mo, 7.6. Sarrebourg – Ste. Marie aux Mines, 115 km

Start im Morgengrauen (6 Uhr), es ist noch recht kalt. Der Morgendunst liegt über den Wiesen, aber der Himmel ist wolkenlos. Es beginnt heute meine Vogesenetappe, da muss man erst mal klettern. Hinter dem Ort Abreschviller beginnt der Aufstieg zum Col du Donon, 1009 m. Es geht lange durch den Wald, das ist dann nicht so interessant. Kurz vor der Passhöhe aber dann die große Überraschung: eine moosbewachsene Mulde neben der Straße und ein Hinweisschild: Source de la Sarre. Das ist ja toll – da bin ich die Saar ja bis zur Quelle hochgefahren. Die Abfahrt vom Pass ist herrlich, wegen des spärlichen Verkehrs kann man meistens auf der Straßenmitte fahren und die Kurven schneiden. Knapp 60 km/h erreicht man dann schon mal. Die allgegenwärtigen Rennfahrer sind natürlich schneller, aber die haben ja auch kein Gepäck dabei.

Man kommt in Schirmeck (380 m) heraus. Da gibt es nur eine Hauptstraße: es donnern die Schwerlaster. Ein Stück lang lasse ich das über mich ergehen, mache dann eine Rast, in Bourg-Bruche glaube ich, und gucke mir die Karte genauer an. Wer die Vogesen kennt, wird sich denken können wo ich hin will. Das ist die Route des Crétes, die in Ste. Marie Aux Mines beginnt. Die Route des Crétes ist nach dem ersten Weltkrieg als militärische Zufahrts- und Höhenstraße zur Verteidigung gegen die Barbaren im Osten angelegt worden. Heute ein Eldorado für Motorradfahrer und auch Radfahrer, „Biker“ eben. Am Wochenende bei schönem Wetter soll es im wahrsten Sinne dort hoch hergehen. Da werde ich Glück haben, das Wetter ist zwar schön aber es ist kein Wochenende.

Nun, soweit sind wir noch nicht. Die Karte verrät, dass man auf kleinen Straßen über den Col du Steige, 534 m, und den Col de Fouchy, 603 m, in das Valle d’ Argent gelangen kann. Wie konnte man das nur übersehen? Jetzt beginnen die Vogesen erst richtig. Es gibt wunderhübsche Orte mit urigen Häusern, Dorfbrunnen, vielen Blumen und so. Es gibt wohl viele Schnapsbrennereien, neben der Straße stehen zuweilen ausgediente Destille-Apparaturen als Dekoration aufgestellt. In dem größeren Ort Villé gibt es auch ein Nautic Center (Erlebnisbad), passt hier irgendwie hin. Der Col de Fouchy ist landschaftlich so schön, dass man ihn ohnehin besser zuweilen schiebend bewältigt. Kurz vor der Passhöhe kreuzt plötzlich eine meterlange Schlange die Straße, zum Glück kommt gerade kein Auto oder Motorrad. Zack – ist die Schlange schon wieder im Gras verschwunden.

Dann rollt man hinab in das Tal und nach Ste. Marie aux Mines. Ich finde ein Hotel, wo wieder alles verrammelt ist. Es ist wohl noch zu früh am Nachmittag. Oberhalb im Tal ist aber noch ein Hotel, das ein bekannter Ausgangspunkt für die Route des Crétes ist. Da schwitzt man sich noch einmal hinauf, wir haben 27 °. Endlich taucht es auf: Les Bagenelles, „Tourenfahrerfreundlich“. Ich werde gastlich (45.- €) aufgenommen und freue mich über die ruhige Umgebung mitten in den Bergen. Die Glocken der Kühe klingen wie Musik und diese wird mich auf der ganzen Weiterfahrt begleiten. Nach der Schwitzerei muss ich heute meine Sachen auswaschen, zum Trocknen hänge ich sie draußen an den Zaun in die Sonne. Da kommt ein neugieriger Esel heran getrabt. Wenn der nun mit meinem Fahrradtrikot abhaut, das wäre nicht so gut. Da hänge ich die Sachen lieber woanders hin, die Sonne verschwindet ohnehin bald hinter den Bergen. Der Esel teilt sich sein Quartier noch mit einer netten Eselin, mit Ziegen und Gänsen, und nebenan fühlt sich ein Schwein wohl in seinem Koben.

Zu essen gibt es Schweinemedaillons mit hausgemachten Spätzle. Am späten Abend haben sich dann an die 10 Motorräder im Unterstand eingefunden, wo mein kleines Fahrrad fast erdrückt wird.

6. Tag: Di, 8.6. Ste. Marie aux Mines - Altkirch, 135 km

Ich habe längst gefrühstückt, da tauchen die verschlafenen Motorradfahrer nach und nach auf. Die wollen draußen frühstücken, hoffentlich schmilzt ihnen in der Sonne nicht die Butter. Wieder Kaiserwetter und Rückenwind – womit habe ich das verdient. Eine sog. Königsetappe liegt vor mit. Nun beginnt die sagenumwobene Route des Crétes, dazu muss man etwa 600 Höhenmeter hinauf. Da ist der Col des Bagenelles, 911 m. Oben hat man das erste Aha-Erlebnis, wenn die bläulichen Kammzüge der Vogesen sich vor oder unter einem erstrecken. Man kann nun etwa 60 km auf der Höhe bleiben, es geht zwar meistens rauf und runter, aber nie lange, sodass man stets knapp unter 1200 m Höhe bleibt. Markante Punkte sind Col de la Schlucht, 1131 m, oder Le Markstein, 1192 m. Das sind dann auch zugleich die hässlichsten Orte mit großen Parkplätzen und Horden von Busgästen, die sich die Beine vertreten, den Toiletten und dann den Restaurants zustreben.

Man fühlt sich als Radfahrer allen überlegen, weil man viel mehr sieht. Z.B: die wilden Stiefmütterchen am Wegrand oder die bemoosten Wipfel der Bergulmen und –ahorne. Die Ausblicke gehen nur in westliche Richtung, das Rheintal kann man nirgends sehen, das hatte man beim Anlegen der Straße strategisch schon so vorgesehen. Zum Schluss wird es noch einmal anstrengend, bis man am Grand Ballon, 1324 m, den höchsten Punkt des Tages erreicht. Auch da alles verbaut und touristisch orientiert.

Ungern aber begibt man sich von der Höhe wieder abwärts, denn damit ist die Vogesentour bald zuende. Oberhalb von Uffholz, wo die Route endet, befindet sich der Hartmanswillerkopf mit einer Gedenkstätte. Dieser Berg wurde im ersten Weltkrieg 4 Jahre lang hart umkämpft und wechselweise von den Franzosen und den Deutschen eingenommen und verteidigt. Auf dem Kriegsfriedhof in Cernay kann man dann an den unzähligen Kreuzen sehen, was dabei herausgekommen ist.

In Cernay ist man wieder im Rheintal und da ist es wie in einem Glutofen, 34 °, wie zu lesen ist. Nun habe ich Schwierigkeiten, mich zu orientieren. An einem staubigen Kieswerk vorbei gerate ich auf eine Autobahnauffahrt, da ist man als Radfahrer nicht so gut aufgehoben. Also alles wieder zurück, um sich auf Nebenstraßen Richtung Basel voranzuarbeiten. Ich komme heute nur noch bis Altkirch, einem größeren Ort. Über den Vogesen herrscht inzwischen eine Wolkenbildung, als ob Brände oder Vulkane ausgebrochen wären. Womöglich gibt es noch ein Gewitter? In Altkirch finde ich nur ein aufgegebenes Hotel. Ein Bäcker (Boulangerie), der gerade seine Gartenstühle reinräumt, verrät: „Hotel wäre gut, aber kein Personal“. Also muss es noch weiter gehen, Wittersdorf oder so, da ist dann doch ein Hotel. Der Chef weist mich in ein erbärmliches Zimmer ein, trotzdem bin ich froh, untergekommen zu sein. Es gibt nur ein schräges Dachfenster, dahinter rauscht ein Aggregat laut wie ein Düsentriebwerk. Dann entdecke ich einen Swimmingpool im Garten, da baden noch welche. Dann kann ich das ja auch machen, und das erfrischt dann doch ungemein nach diesem anstrengenden Tag.

Das Abendessen kommt heute aus der Tüte, das Restaurant ist mir zu teuer. Immerhin verstummt das Aggregat gegen 22 Uhr. Wie angenehm! Am nächsten Morgen bin ich einigermaßen empört, dass man mir für das erbärmliche Zimmerloch 50.- € berechnet. Beschweren hat gar keinen Zweck, da kann man dann plötzlich kein Deutsch – aber man will ja keinen Ärger.

7. Tag: Mi, 9.6. Altkirch – St. Ursannes, 105 km

Das Frühstück ist auch nicht so doll. Was soll’s, das Wetter ist weiterhin schön. Ich muss nun nach Basel, denn da beginnt das vielgerühmte „Veloland Schweiz“. In der Schweiz hat man es in den letzten Jahren fertig gebracht, 9 Rad-Fernrouten zu schaffen, zu beschildern, sponsern zu lassen und durch Routenführer-Broschüren zu dokumentieren. Hier geht es natürlich sportlicher zu, als etwa in Holland oder Dänemark, wo der Radtourist auch sein Eldorado findet. Natürlich auch in Deutschland, wo es ja schöne Flussrouten gibt. Man hat inzwischen erkannt, dass der Radtourismus einen nicht zu verachtenden touristischen Wirtschaftsfaktor bedeutet. Das merke ich ja auch an meinem Geldbeutel – das hat man sicher schon herausgelesen: ganz billig ist die ganze Sache nicht. Wenn man ein Zelt mitführt, Jugendherbergen oder Schlafen im Stroh und Privatquartiere bevorzugt, sich zudem selber verpflegt, dann kann man es auch preiswerter haben. Es ist auch eine Frage des Alters: in reiferen Jahren hat man es gern bequemer und kann es sich vielleicht auch leisten, wenn man einen Großteil seines Berufslebens hinter sich hat. Das Geld, was man auf so einer Reise ausgibt, bekommen später vielleicht einmal nicht die medizinischen Einrichtungen, die man womöglich wegen Bewegungsmangel u. dgl. konsultieren muss.

In Basel beginnen bzw. enden drei Routen: Jura-Route (7), Rhein-Route(2) und Nord-Süd-Route(3). Auf meinem Programm steht der Schweizer Jura. Nach Basel muss ich eigentlich nur zum Erwerb des Routenführers, Band 7. Sonst könnte ich abkürzen und von Altkirch ein paar km nach Süden fahren, um auf die Jura-Route zu stoßen. Nach dem bewährten Motto „Der Weg ist das Ziel“ geht es aber doch auf Nebenstraßen nach Basel. Dort komme ich nach ca. 30 km am Vormittag an. Und dann auch gleich direkt am Spalentor. Als ich das letzte Mal hier war ist über 40 Jahre her (Unterprima). Neben dem Tor ist eine Buchhandlung, doch der gute Herr Buchhändler hat von dem Veloland Schweiz noch nie etwas gehörtAn der „mittleren Brücke“ ist eine Buchhandlung nach meinem Wunsch und die Jura-Broschüre in meinem Besitz 24 CHF). Ein Blick noch in den Innenhof des Rathauses mit seinen Wandmalereien und Ritterstatuen – dann zieht es einen weiter.

Die Juraroute ist vom Stadtzentrum ausgehend beschildert und man gelangt über Hinterstraßen und Nebenwege an einer Bahnstrecke entlang fast verkehrsfrei aus der Stadt hinaus. Wenn da nicht gerade Schulschluss gewesen wäre. Denn da befinde ich mich plötzlich inmitten einer Schülerschar, die kräftig einen Berg hinauf kurbelt – und ich mit. Dadurch verpasse ich eine Abzweigung und befinde mich auf einemmal in unbekannten Gefilden (Biel und Benken). Auch das geht vorüber und man findet die Beschilderung wieder – immer Grund für eine dankbare Rast (Mariastein – ein bekannter Wallfahrtsort). Dort haben wir den ersten Anstieg Richtung Jura bewältigt, danach durch ein Tal zu dem hübschen Ort namens Metzerlen. Dort jauchzen die Kinder im Dorfbrunnen (kein Trinkwasser). Da hätte man auch Lust. Ich stehle mich in die Toiletten einer Gastwirtschaft und fülle die Trinkflasche dort auf (obwohl die 1.5 L Flasche kaum zwischen Wasserhahn und Waschbecken zu platzieren ist).

Nun geht es ernsthaft hinauf auf 747 m, meistens im Wald und damit im Schatten. Dort oben beginnt dann ein gut fahrbarer geschotterter Kammweg mit ersten Ausblicken auf die blühenden Wiesen des Jura. Da blüht es nicht nur, wie wir es kaum mehr kennen, es gellt einem auch geradezu in den Ohren – und das sind die Grillen. Ein schöner Rastplatz ist bereits von einem Radlerpaar besetzt. Im übrigen muss ich nun schon mal gegenüber den Wanderern und Walkern, die da mit Ski- oder Wanderstöcken zugange sind, den Schweizer Grüß üben, der heißt Grüetzi! Anfangs gelingt mir nur ein gekrächztes „Grützi“. Sage ich lieber „Servus“ oder „Salut“ (Salü!). An den Grüßen „Pfüat Di mitanand“ oder „Auf Wiederluage“ versuche ich mich lieber erst gar nicht.

Als der Schotterweg zuende ist, geht es auf einem schmalen asphaltierten Wirtschaftsweg rasant zwischen Kuhwiesen hinunter. So bei Tempo 40 km/h tauchen plötzlich zwei dünne Absperrstäbe quer über die Straße auf. Vollbremsung! Aber die Stäbe sind elastisch befestigt und schnellen zurück. Sie dienen dazu, das Vieh am Verlassen der eigenen Reviere zu hindern, aber auch, den ortsunerfahrenen Radfahrer zu erschrecken. Es gibt auch diese Viehgitter auf der Straße, über die kann man gut hinweg brausen. Somit kommen wir in das Leimen- und Lützeltal, wo man ständig zwischen Frankreich und der Schweiz wechselt – ganz ohne jede Kontrollen. Einmal raste ich am Straßenrand, da kommt das Radlerpaar von vorhin herangerollt. Das sind Stephanie und Raphael auf Kurzurlaub. Wo man weiterhin übernachten könnte, diskutieren wir. Die nächste Unterkunft in Courgenay hat laut Broschüre heute Ruhetag. Dann gibt es noch die Stadt Porrentruy. Da weiß man nicht so genau. Aber St. Ursanne das sei der Ort, wo es am schönsten sei. Nur: man hat heute schon einiges hinter sich, 25 km sind es noch, dazu ein Übergang von 789 m Höhe. Muss das sein?

Ich fahre doch lieber nach Courgenay. Auf der Strecke kann man ein Tunnelportal ausmachen. Da verschwinden die Autofahrer auf die bequemere Art unter dem Schweizer Jura. Und da rastet ein Radtourer im Gras. „Hallo!“ und vorbei gesaust. In Courgenay gibt es sogar einen Supermarkt, Vorräte für alle Fälle und tatsächlich hat das Hotel du Boeuf heute zu. Da kommt der Radler von vorhin heran gezockelt. „Sie haben mich vorhin so nett gegrüßt, nun grüße ich sie“. Schon haben wir ein interessantes Gespräch. Er ist auf dem Jakobspfad, zunächst mit dem Rad. Ab Le Puy vielleicht zu Fuß. Übernachtungen zeltend möglichst abseits der Campingplätze. Tagesbudget 25 €. „Ab dem nächsten Jahr bin ich auch freier Unternehmer“ kann ich nur dagegen halten. „Haben sie das mit dem Esel gelesen, auf dem Jakobsweg, wie hieß die Dame noch?“ frage ich. „Ach sie meinen Carmen Rohrbach, phantastisch, wie die als Biologin die Naturerlebnisse beschreibt“. Sie wäre sogar im Fernsehen gewesen, sehr lebendig. Ich kenne sie nur vom Lesen und war auch begeistert. Wir wünschen uns nun alles Gute, wir würden uns wohl nicht wieder treffen, „wenn jetzt schon auf ihrem Tacho 90 km drauf sind“. So ist es, dieser Europatrotter wird sich wohl heute nicht mehr über den Berg bemühen.

Ich versuche es aber doch noch, bald schon muss man vom Rad, weil bei dem steilen Anstieg das Rad bald von selber still steht – wie ein Esel. Es ist so steil, dass man nur mit vorgebeugtem Oberkörper hinauf schieben kann. Und hoch oben am Hang sieht man, wie es weiter geht. Schlimm. Anstrengend. Schwitzen. 20 % Steigung (geschätzt). Verpusten. Rast machen. Weiter pusten und verpusten. Endlich die letzte Kurve, eben die, die man schon von unten gesehen hat. Da kommt einer herauf gekeult. Mit hoher Trittfrequenz aber ohne Gepäck. Grauer Bart – älter als ich? Mein Rad hat leider nicht so eine kleine Übersetzung, es ist beim besten Willen bei so einer Steigung nicht mehr zu fahren. Macht aber nichts, oben bin ich auch so. Ich klatsche dem graubärtigen Keuler Beifall, dann ist der schon auf der Abfahrt. Es geht weit geschwungen um ein Wiesental, Bremsen und Grillen kreischen um die Wette. Seeleute heißt das hier. So komme ich nach St. Ursanne. Ein Bilderbuchort. Der schönste auf der Jura-Route. Durch ein Tor hindurch in eine mittelalterliche Puppenstube. Da stehen meine Schweizer Freunde Stephanie und Raphael auf dem zentralen Platz. Die haben es also auch geschafft. Ein paar Minuten sind sie erst hier, dann war ich ja auch nicht so langsam. Darauf kommt es natürlich nicht an, angesichts der Kulisse hier steht uns ein herrlicher Abend bevor. Die beiden begeben sich zum Campingplatz, wo sie telefonisch einen Wohnwagen gebucht haben. Ich checke gleich an der Brücke im Hotel Demi Lune ein (55 CHFR).

Das verschwitzte Radtrikot und die Radhose müssen wieder gewaschen werden, die sind vom salzigen Schweiß verkrustet. Den Trick habe ich schon öfter mitgeteilt, die nassen Stücke nach dem Auswringen in ein Handtuch wickeln und darauf herumtrampeln. Danach ist alles bald trocken. So, und nun setze ich mich auf die Terrasse über dem Fluss Doubs und verzehre ein Cordon Bleu mit Pommes, zwei Bier dazu. Schön ist die Welt und das Leben, besonders hier.

Der Fluss Doubs ist übrigens eine ganz geheimnisvolle Sache. Er ist weitgehend unzugänglich, weil er sich in tiefe Schluchten eingegraben hat und z.T. unterirdisch zugange ist. Das kann man mit dem Fahrrad nicht erforschen. Aber das Flussrauschen begleitet mich beim Einschlafen...

8. Tag: Do, 10.6. St. Ursannes - Les Ponts de Martel, 85 km

Vor dem Aufbruch noch ein paar Fotos mit Morgensonne, zu schön ist es hier. Dann muss man schon wieder klettern, von 491 m auf 1008 m. Unter dem Eisenbahnviadukt über St. Ursannes hindurch, bald sieht man ihn von oben. Bergan schiebend treffe ich eine Frau mit Schäferhund. “Noch ein ganzes Stück haben sie vor sich“, meint sie. Das stimmt. Aber die  Aussichten werden immer besser. Wenn man es geschafft hat, geht es immer auf etwa 1000 m Höhe weiter. Die Route ist verkehrsfrei neben den Straßen perfekt geführt. Wiesen, Blumen, einsame Gehöfte, Grillen, Milane, Baumgruppen – Parklandschaft. Als ich gerade wieder den Fotoapparat einpacke, kommen meine Schweizer Freunde herangerollt. Die wollen eine Schaukäserei in dem Ort mit dem schwierigen Namen Saignelègier besuchen. Daraus wird nichts, heute ist anscheinend ein Feiertag, Fronleichnam oder so was. So treffen wir uns an dem Waldteich Etang de la Gruère zum letzten mal, von da rollen sie weiter. Hört man nie wieder voneinander? Ich verteile dann gern meine Karte mit der E-mail Adresse, vielleicht erfährt man dann doch noch etwas darüber, wie es jeweils weiter gegangen ist.

Ich begebe mich also noch an den Waldteich, wo es nicht so viel zu sehen gibt. Es ist zu lesen, dass sich hier allmählich eine Moorvegetation bildet. Ich belasse es bei einem Panoramafoto und nehme vor einer lärmenden Jugendgruppe reißaus. Der nächste markante Punkt nennt sich Mont Soleil. Da sind 250 m zu klettern. An einem Bergrestaurant kehre ich mit wedelnder Trinkflasche ein, wieder kann ich sie auf der Toilette nicht zwischen Wasserhahn und Ausguss zwängen. Da schlüpfe ich schnell hinter die Theke, die Wirtin telefoniert ohnehin gerade mit ihrem Handy. Als der vollbärtige Herr des Hauses erscheint, verschwinde ich schon mit gefüllter Trinkflasche um die nächste Ecke.

An den Hängen des Mont Soleil hat man dem Namen des Berges gerecht werdend eine Solaranlage aufgebaut, die kann man auch besichtigen. Nur scheint im Moment die Sonne gerade nicht. Wenig später muss ich mich sogar vor einem kräftigen Regenschauer unter ein Vordach flüchten. Dann geht es schön bergab bis zu der Stadt La Chaux de Fonds. „Revolutionärer Städtebau auf 1000 m Höhe“ ist zu lesen. So eine Art Bauhaus im Schweizer Jura? Der berühmte Architekt Le Corbusier war hier auch zugange, hat die Stadt aber „im Zorn“ verlassen – wie es heißt. Mit so was macht man dann Touristenwerbung. Es stört mich nicht, dass man die Stadt nur tangiert, man muss so langsam wieder an eine Unterkunft denken. Es sind noch ca. 20 km bis zu dem Ort Les Ponts de Martel. Hier soll es eine „unheimlich schöne Hochmoor-Landschaft“ geben, aber auch eine Karstschwinde, wo die Wasser in einem Erdfall verschwinden, um anderswo wieder als Quelle zu entspringen. Der Hochmoore werde ich nicht ansichtig. Ein Quartier in dem Ort gibt es auch nicht, da sitzt man nur in den Restaurants und pichelt sich eins.

Ein paar km weiter gibt es aber das Restaurant de Poneys. Auf dem Weg dahin passiert man wenigstens dieses Erdloch, wo sich die Gewässer ins Unterirdische verabschieden. Da ist nicht viel zu sehen, es verabschieden sich gerade keine Wasser. Endlich erreiche ich das Restaurant, es war anstrengend heute – und wieder bin ich glücklich, mein Quartier erreicht zu haben. Das ist sogar eine ganze Dachetage mit Ausblick auf eine Kuhwiese, aber auch auf ein neugieriges Lama. Zum Glück spuckt es nicht. Ich bekomme auch ein reichhaltiges Nachtmahl: Schinken Rösti oder so was, lecker aber leider mit 16 CHF trotz des rustikalen Ambiente nicht ganz preiswert. Ich mache gleich die Gesamtrechnung klar und verkünde, dass ich morgen ohne Frühstück – obwohl im Preis inbegriffen – starten wolle. „Sie wollen nicht essen?“ „Non“. Da mögen sich die Herrschaften fragen, was für ein komischer Vogel ihnen da rein und gleich wieder raus geschneit ist. Das frage ich mich allerdings auch...

9. Tag: Fr, 11.6. St. Les Ponts de Martel – Le Pont, 83 km

Um 6:30 Uhr macht sich der komische Vogel über die Hintertreppe aus dem Staub in der Meinung, möglichst wenig von einem Tag mit Kaiserwetter und Rückenwind zu verpassen. Da hat er sich verrechnet – der komische Zugvogel. Dunstig ist es, grau und kalt. Nach einigem rauf und runter in das Tal des Flusses namens Traveuse wird das längst fällige Frühstück auf einer Bank eingenommen (Brot und Käse). Ein Missjöh mit Schaferhund kommt herbei – beide ziehen sich aber lieber schnell wieder zurück angesichts dieses komischen Vogels auf seiner Bank da. Ich bereue nun schon, auf ein vielleicht wunderbares Frühstück in jenem Landgasthaus verzichtet zu haben.

Das Tal heißt Val de Travers und es gibt einige Industrie. Immer am Fluss entlang rauscht man durch Orte wie Couvet oder Fleurier. Dann geht es wieder 400 m höher weiter, da muss man auch erst mal wieder rauf. Und kaum ist man oben, fängt es an zu regnen und es ist kalt. Ein weiterer Passübergang ist angesagt Col de L’ Aiguillon, 1320 m. Vorher noch eine Rast unter dem Rampenvordach eines aufgelassenen Industriebetriebs. Da rauscht ein anderer komischer Vogel mit wehendem Regenumhang vorbei. Den hätte ich nie wieder gesehen, hätte er sich nicht am Beginn des Aufstiegs des wehenden Regenumhangs entledigt. Markus heißt er, „Fahren wir ein Stück zusammen, odr?“ „Aber ich bin nicht so schnell!“ „Ich kann mich schon anpassen, odr?“ Also kurbeln wir bei angenehmer Steigung zusammen los.

Nun kriege ich einiges zu hören. Markus fährt auf Nebenstraßen, orientiert sich nach den Michelinkarten Richtung Frankreich. Übernachten meistens im Freien, letzte Nacht allerdings in der Jugendherberge St. Croix, 30 CHF, auch nicht so billig. Ja, sein Bruder habe in der berühmten Schweizer Velokompanie gedient, nun könne der überhaupt nicht mehr Rad fahren, er hat’s am Knie seitdem. Und am Simplonpass, da sei er selbst mal beim Nächtigen im Wald von einem Hirschen angegriffen worden, der sein Revier verteidigen wollte, odr? „Hier sind ja Trollblumen“ versuche ich beizusteuern. „Die kenne ich gar nicht“ meint Markus. Dann ist mir die ganze Zeit schon eine Pflanze aufgefallen, die auf allen Wiesen zu sehen ist. Die Kühe verschmähen sie offensichtlich. Markus meint aber, das sei eine Plackenblume oder Kackblume und die Samen kämen aus den Kuhmägen, odr? Ich denke mal, damit ist das Rätsel noch nicht vollständig gelöst.

Inzwischen puste ich hörbar. An einem Refugee oder so verhalten wir – das ist eine kleine Hütte. „Hier könnt man auch gut nächtigen, odr?“ „So, nun muss ich langsamer weiter“ sage ich. Damit trennen wir uns, natürlich bekommt auch Markus meine Email-Karte. „Dann sehn wir uns nicht mehr, odr?“

Leider ist es so, bis ich auf dem Pass bin, wird Markus wohl schon über alle restlichen Berge sein, odr? Oben angekommen: da sind sie – die Alpen!!! Blau verschwimmend als gezackte Silhouette. Leider nicht zu fotografieren, zu dunstig – freut euch auf die Alpen, wenn wir einmal näher dran sind!

Steil geht es nun im Zickzack hinunter nach Baulmes. Da ist gerade Schulschluss und ich muss schiebend mir einen Weg zwischen den Schulbussen und ausgelassenen Schülern bahnen. Danach ist mir der weitere Weg nicht ganz klar und ich passiere dreimal ein einsames Pferd. Dann aber ein Schotterweg durch die Wälder, zudem wieder bergan, froh ist man, wenn man wieder anständige Wege erreicht. Aber dann habe ich mal so richtig Regen und Gegenwind bzw. Sturm. Erst unter einem Scheunendach, dann an einem Dorfwaschplatz oder was das sein soll mit betonierten Wasserbecken finde ich Schutz vor dem Regen. Nach einer halben Stunde ist die Regenfront durchgezogen. Hinter dem Ort Vallorbe ist auf einer stark befahrenen Straße der Pass M. d. Oxeires, 1000 m, zu bewältigen. Dort oben ist dann so was wie ein Jura-Parc, das hört sich an, als ob da Pelikane schreien – aber hier oben? Bären, Bisons und anders Getier sind wohl auch zu besichtigen. Familien mit Kinderwagen streben diesen Sehenswürdigkeiten zu. Ein paar Tage später wird dieser Ort Ziel einer Etappe der Tour de Suisse sein. Die hat letztendlich in diesem Jahr Jan Ulrich gewonnen. Aber wahrscheinlich nur, weil ich immer vor ihm her gefahren bin.

Diesmal geht es nicht weit hinunter bis in den Ort Le Pont, der zwischen einem kleinen und einem lang gestreckten größeren – dem Lac de Joux, liegt. Ich bin zwar früh gestartet und es ist noch früh am Nachmittag und die Kilometerleistung für heute ist nicht so doll. Vielleicht ist morgen besseres Wetter, deshalb quartiere ich mich in dem Velotel Hotel de la Truite ein. Der bald danach wieder einsetzende Regen bestätigt das frühe Beenden des heutigen Tages.

10. Tag: Sa, 12.6. Le Pont - Cully, 113 km

In der Nacht hat der Regen weiter gerauscht, nun am Morgen scheint es besser zu werden. Die letzte Etappe im Schweizer Jura steht bevor. Da geht es zunächst ohne größere Steigungen am Lac de Joux längs, allerdings anfangs durch einen Höhenzug von diesem getrennt. Nachher geht es aber am Seeufer weiter, dort rüsten sich die Angler für ihre aufregende Tätigkeit. Auch eine Materialschlacht, angefangen mit der waidgerechten Tarnkleidung, Gummihose, hyperelastischer Angelroute usw.

Hinter Le Brassus, 1021 m,(das klingt so nach Tour de France) kommt der letzte Anstieg, der einen auf den Col de Marchairuz mit1339 m Höhe und damit den höchsten Punkt der Jura-Route führt. Der Aufstieg ist in mancherlei Hinsicht kurzweilig. Der sich weitende Blick auf das Vall de Joux (Joux = Wald), Weiden und Wiesen von jahrhunderte alten Steinmäuerchen durchzogen, Blumen am Straßenrand. Einmal setze ich mich mitten in einen sozusagen natürlichen Steingarten, um ein paar Knabenkräuter und Bergprimeln zu fotografieren. Am liebsten würde ich jetzt noch dort sitzen.

So ist man schneller oben, als gedacht und weiß: nun kann nichts mehr passieren, was das bergan schieben angeht. Man fährt zunächst durch ein herrliches Hochtal auf schmaler Straße. Tatsächlich kommt einem da eine kleine Schnauferl-Ralley in offenen Cabrios entgegen, Lumpensammler mit Anhänger hinterdrein. Die sind alle genau so guter Laune in dieser Landschaft, und so nimmt keiner am anderen Anstoss, sondern man winkt sich lachend zu.

Von der abschließenden Abfahrt kann man nicht viel berichten, da ist volle Konzentration angesagt. Gefährlich sind hier wie überall die Querrinnen zum seitlichen Abfließen des Regenwassers gedacht. So kommt man – auch wegen der Unübersichtlichkeit - selten auf höhere Geschwindigkeiten. Leider wird so die mühsam gewonnene potentielle Energie durch die Bremsen in Felgenwärme umgesetzt. Ein Kontrolle zeigt: so richtig heiß, dass es einem die Reifen wegsengt, werden die Felgen nun auch wieder nicht.

In Bassins hält man vielleicht auch einmal an und schaut auf das Alpenpanorama oder den Genfer See voraus. Die Stadt Nyon ist dann das Ziel der Jura-Tour. Für mich soll es "Nyon-Stop" weiter gehen. Dazu brauche ich die Broschüre über die Rhone-Route, Tour 1, die hinauf in das Wallis bis an die Ursprünge der Rhone führen wird. Die Touristen-Information hat geschlossen – es ist Samstag Mittag 12.00 Uhr. Im Buchladen oder gar den Kioskläden hat man keine Ahnung von Veloland Schweiz. Ich kann nur eine Karte der Süd-West Schweiz erwerben, damit man weiß, wo man ist. Ansonsten nichts zu machen, ich hätte mir den Besuch der Stadt Nyon sparen können und 10 km abkürzen. Aber wie gesagt: der Weg ist das Ziel und ich mache noch ein Panoramafoto (Gegenlicht).

Aus Nyon hinaus Richtung Lausanne fahre ich auf der Hauptstraße. Das ist kein Vergnügen. Bei der Abzweigung nach Gland fahre ich links und stoße dann bald auf die Beschilderung der Route 1. Da fährt man dann gleich zwischen Holzhäusern und blumengeschmückten Balkonen herum und das ist ein anderer Schnack. An einem Dorfbrunnen wird erstmal Rast gemacht. Jetzt aber blüht man so richtig auf, denn es geht bei herrlichem Sonnenschein durch die Weinberge an den Südhängen über dem Genfer See.

Eine Rast am Seeufer, da balzen gerade zwei Haubentaucher. Plötzlich werden die ganz aufgeregt und streben schimpfend einer Stelle im See zu, wo ein brauner Rücken im Wechsel auftaucht und wieder verschwindet. Offensichtlich ein Tier mit Pelz. Ob Biber oder Fischotter? Am Loch Ness sind wir ja eigentlich nicht. Bald ist wieder Ruhe und ich habe den Fotoapparat vergeblich in Position gebracht.

In der größeren Stadt Morges herrscht wieder einiger Betrieb – auch hier bekomme ich meine Velo-Broschüre nicht und des weiteren gebe ich meine Bemühungen diesbezüglich von nun an auf. Außerdem ist morgen Sonntag, da ist sowieso alles geschlossen.

Wenn man sich nahe Lausanne immer eng am Seeufer hält, landet man irgendwie in einem Park, wo Reste der römischen Stadt Lousonna zu erkennen sind. Der Rest von Lausanne brodelt links und da zieht es einen nicht unbedingt hin. An einer Stelle reicht die Stadt auch richtig an den See heran. Ab da geht es noch ein wenig im Verkehr auf der Straße weiter. Wenn man die Mühe nicht scheut, sollte man ruhig links hoch in einen der höher gelegenen Weinorte (Lutry oder so) schieben oder fahren. Wenn man Glück hat, gerät man auf einen Wirtschaftsweg zwischen den Weinbergen, der die Orte verbindet.

Ich liebäuge schon mit der nächsten Übernachtungsmöglichkeit. Die ergibt sich hinter dem Ort Cully in Form eines Comfort Hotels, aber auch mit Velowimpel. Das gibt den Ausschlag. Das Zimmer nehme ich aber lieber nach hinten raus, wo der Genfer See leider und die vielbefahrene Landstraße glücklicherweise nicht sind. Heute ist wieder Waschtag und die Angelegenheit ist am offenen Fenster schnell getrocknet. Abendessen aus der Tüte (in Morges war ich noch im Coop).

11. Tag: So, 13.6. Cully - Susten/Leuk, 123 km

Am Sonntag Morgen kann man ungestört auf der Straße fahren, da ist so gut wie kein Betrieb. Nun kommt die berühmte Uferzeile Vevey bis Montreux. Nicht schlecht, was sich da an Anwesen an den Hängen angesiedelt hat. Und die Hotels erst. An der Uferpromenade stehen Palmen. Darunter wandeln an diesem Morgen die Hundebesitzer (oder lassen wandeln – weiß man’s?).

Dann wird man ganz aufgeregt: da liegt doch rechts voraus so ein Briefmarkenschloss? Da muss ich gelegentlich mal wieder in mein altes Briefmarkenalbum schauen. Es handelt sich um das Chateaux de Chillon, Motiv für viele Schweizer Briefmarken. Danach hat man das mit der Schickeria überstanden und kurvt im Mündungsdelta der Rhone herum. An einem Waldstück höre ich den Pirol oder mehrere. Dann geht es immer an einem Kanal lang, das ist aber nicht die Rhone. Die Beschilderung der Radroute habe ich zwischendurch verloren. Ich muss eine Frau, die auf dem Feld ihren Hund ausführt, nach dem Weg fragen. Die kann aber erst antworten, nachdem sie sich die Ohrstöpsel ihres MP3-Players oder was das sein mag, heraus genommen hat.

Die Beschilderung finde ich erst bei Monthey wieder, wo es endlich an der richtigen Rhone entlang geht. Das Tal verengt sich dann bei St. Maurice, wo sich Eisen- und Autobahn in einen Tunnel verabschieden - die Feiglinge! Bis Martigny bleibt man an der Rhone, die leider auch durchgehend kanalisiert ist, um die Uferregionen für Industrie, Ansiedlung und Landwirtschaft nutzen zu können. Ab und zu kann man auf einer Schautafel darüber etwas lesen, warum und wozu und so.

In Martigny knickt das Tal bekanntlich um 90° nach Nordosten in das Untere und obere Wallis. Was wird nun mit dem Wind, der mich bis hier her geblasen hat? Nach wenigen km steht es fest: er weht einfach stromaufwärts ob Knick oder nicht. Mir soll’s recht sein. Es wird nun auch immer schöner: an den Südhängen endlose Weinberge, dazwischen schmucke Orte. In der Talaue wird eifrig Obst und Gemüse angebaut. Ein Treibhaus mit fast schon grell bunten Blumenkolonien zwingt mich, mit dem Fotoapparat den Uferdamm hinunter zu klettern. An einer anderen Stelle werden Erdbeeren abgeerntet. Könnte man da nicht mal...? An einer versteckten Stelle probiere ich mal zwei-drei Früchte, und als ich mich wieder aufrichte stehe ich vis a vis einer Pflückerschar, die hatte ich übersehen.

An einer Natur-Beobachtungsstation mache ich noch eine Rast, da kann man durch Sehschlitze die Tierwelt beobachten. Ich zoome mir aus 50 m Entfernung eine Ente heran, scharf bekommt man so ein Bild natürlich nicht.

Das letzte Stück für heute ist mühsam. Die Städte Sion und Sierre werden links liegen gelassen. Dann folgen 10 km auf der Landstraße, eine andere Route gibt es hier nicht. Und der Wind kommt auf einem Mal von vorn, aber wie. Man darf sich nun nicht die Laune vermiesen lassen, wenn man den ganzen anderen Tag von dem Wind profitiert hat. Voraus liegt der Ort Leuk, nur durch einen Aufstieg erreichbar, und - traumhaft schön: Leukerbad auf 1400 m Höhe, damit unerreichbar. Und unter beiden liegt ganz bescheiden der Ort Susten. Gibt es da ein Hotel? Jedenfalls keins, das offen hätte. „Zimmer frei“ lese ich da und schon stehe ich mit dem Rad in einem Garten. „Sind sie die Herrschaften mit dem Zimmer?“ –„Ja, das sind wir“ – und damit hat der Tag mal wieder sein glückliches Ende gefunden. Essen gehen kann ich auch noch im Restaurant Taverne. Da steht Fohlensteak auf der Speisekarte. „Ist das was vom Pferd?“ „Ja“ „Dann probiere ich das mal. Und ein großes Bier bitte!“. Es schmeckt dann wie Rumpsteak, trotzdem kann ich den Gedanken nicht los werden, warum man Fohlen schlachtet und zum Verzehr verwendet. Das nächste Mal werde ich wohl erst wieder meine Pferdebratwurst auf dem Braunschweiger Weihnachtsmarkt verzehren.

Draußen scheint die Sonne und man könnte die schönste Aussicht haben. Die Fensterscheiben des Lokals sind aber gelb getönt und gemustert, da sieht man alles nur verschwommen. Vielleicht ist es nach ein paar mehr Bieren besser, - wenn alles so aussieht?

12. Tag: Mo, 13.6. Susten - Zermatt, 25+20 km

Beim Frühstück bringe ich die gute Vermieterin (Agnes Metry, Kantonsstrasse 36) ordentlich auf Trab mit Internet und Veloland. Sie schreibt sich ein paar Adressen aus der Broschüre auf, damit habe ich meinen Beitrag zur Förderung des Schweizer Radtourismus geleistet (dieser Bericht ist natürlich auch einer).

Ich habe mir eine Überraschung für mich ausgedacht. Wenn man schon mal in der Gegend ist, könnte man da nicht mit der Bahn nach Zermatt hoch fahren und sich dort ein wenig umschauen. Hat man nicht schon als Kind mit angehaltenem Atem von der Erstbesteigung des Matterhorns gelesen? Habe ich nicht zu Hause ein Buch: „Matterhorngeschichten“ verschlungen? Damit ist die Diskussion abgeschlossen und die Abstimmung ergibt einstimmig: Zermatt.

Dazu muss man nach Visp auf den Bahnhof. Ich habe in etwa die Abfahrtszeiten (stündlich) auwendig gelernt. Das ist immer nicht so gut. Denn dann rast man dahin um zu vermeiden, dass einem gerade ein Zug vor der Nase weg fährt. Diesmal erledigt sich das auf andere Weise. An einer Brückenauffahrt tut es plötzlich am Hinterrad einen Schlag und das schleift augenblicklich! Achsenbruch?

Aufatmen: es sind nur drei Speichen abgerissen – gleich drei auf einmal? Genau drei Speichen habe ich als Ersatz mitgenommen. Da sie außerdem gegenüber dem Zahnkranz zu ersetzen sind, ist die Sache nicht weiter ein großes Problem, ich muss noch nicht mal die Luft ablassen. Bald geht es weiter, möglichst vorsichtig, bei jeder Unebenheit, Bordstein oder gar Schlagloch zuckt man zusammen. Da kommen zwei Flugplätze in Sicht, der erste sieht verlassen aus. Da kann man doch schon mal die Betonpiste entlang brettern, man muss nur aufpassen, dass man nicht abhebt. Beim zweiten Flugplatz landet aber gerade ein Flugzeug, da bekommt man doch ein bisschen Gänsehaut, wenn man dazwischen geraten wäre. Also lieber auf die Straße und schnell ist man dann auch in Visp. Die Matterhorn Gotthard Bahn fährt in 15 Minuten, damit ist einem kein Zug vor der Nase weg gefahren. Glücklich sitze ich dann im Zug, obwohl das auch ganz schön kostet: 15 Franken für das Rad und 32 Franken für den Fahrgast. Zum Glück konnte ich gerade noch vermeiden, dass man mir eine Rückfahrkarte andreht.

Es geht hinauf durch das Mattertal. An steilen Passagen wird ein Zahnradantrieb zugeschaltet. Schluchten und Tunnels, luftige Brücken. Das wird man dann morgen mit dem Rad alles wieder runter zischen. Der letzte Ort vor Zermatt heißt Tasch, da gibt es riesige Parkflächen, denn Zermatt ist autofrei. Waren es 20 Busse, die ich im Vorbeifahren zähle? Aber sonst sind die Parkflächen nur zu einem Bruchteil belegt.

In Zermatt auf dem Bahnhofsplatz geht es dennoch ganz schön quirlig zu. Und nun die Auflösung vom Anfang dieser Geschichte: wo fahren die Japaner gerne hin? Offensichtlich zum Matterhorn – dem europäischen Mount Fuji. Es wimmelt geradezu von ihnen, natürlich sind alle lieb und freundlich, wie es ihre Art ist. Im Touristenbüro suche ich mir das Hotel Garni Testa Grigia aus, das ist gleich um die Ecke. Die Dame von der Rezeption ist allerdings gerade nicht anwesend. Die sei mal eben ins Migros, teilt mir ein ebenfalls wartender Herr mit. Er sei selbst aus Zermatt, teilt er weiter mit, ob ich Fragen hätte, dann nur zu. „Na klar, wer hat denn das Matterhorn als erster bestiegen?“. Als er sich anschickt, tief Luft zu holen, verrate ich, dass das ein Scherz sei, aber da erscheint die Dame, zurück aus dem Migros, auch schon. Fir beiden müssen erst eine technische Frage erörtern, wann und wo die Telefonanlage funktioniert oder nicht. „Nun sind sie dran“ heißt es endlich. Ich bekomme Zimmer 208, Dusche auf der Etage, das ist dann preiswerter. Gepäck abgestellt, Fenster auf und erst mal raus geschaut. Da steht das Matterhorn sozusagen über den Dächern in seiner ganzen Schönheit. Und dieser Ausblick geht nicht auf die Rechnung.

Später am Abend zeige ich der Rezeptionsdame ein paar Fotos auf dem Display. „Die sind aber schön, wo haben sie die denn gemacht?“ „Na, von Zimmer 208!“. Damit ist meine Motivation aufs höchste aktiviert und bald geht es mit dem unbepacktem Rad „.auffi“. Wie ihr euch denken könnt, gibt es für mich nur eine Richtung: immer auf jenen Berg zu. Da gibt es einen schönen Hangweg, Fahrräder verboten. Aber ich schiebe ja nur bergan – in dem bewährten Tempo eines Almöhi, Schritt um Schritt bedenkend. Bei 1936 m Höhe erreicht man die Ansiedlung Zmutt, eine Alm bzw. mittlerweile ein Bergrestaurant, wo man es sich gut gehen lässt. Es folgt ein kleiner Stausee, dort kann das Tal in der Nähe der Staumauer gequert werden. Von dort führt ein geteerter Weg auf der anderen Talseite wieder hinunter, damit ist der Rückzug mit dem Rad gesichert.

Ein holperiger Weg führt weiter bergwärts, kann man den überhaupt mit den empfindlichen Speichen auch wieder runter fahren? Einige Mountainbiker zeigen einem, was Sache ist. Die kurbeln mit kleinster Übersetzung hinauf oder sausen mit Powerslide talwärts. Ich schiebe stur weiter bergan, passiere Biel oder Stafel, 2199 m, bis ich auf vielleicht 2300 m Höhe angelangt bin. Dann weitet sich das Tal bis zum Zmuttgletscher. Da ist alles eher grau und unwirtlich. Ich habe den Fuß des Matterhorns erreicht und bilde mir ein, von hier einen Aufstieg beginnen zu können. Bei der Einbildung soll man es belassen, wir werden noch sehen, warum. Die Abfahrt über den steilen holperigen Pfad ist auch aufregend genug. Aber es geht, bis zum Stausee komme ich heil hinunter. Danach ist asphaltiert. Hei, geht es da hinunter, vorbei an Wanderern mit schmerzenden Füßen. Das Mitnehmen des Fahrrads hat sich gelohnt, denn so muss man den gesamten Abstieg nicht per pedes zurück legen. 20 km sind es dann auch am Schluss und alle Speichen noch intakt.

Unten angekommen findet man sich an der Kirche wieder. Dort ist der berühmte Bergsteigerfriedhof. Auf jedem Grabstein ist neben Namen, Alter und Herkunft auch die Art des Unfalls und der Ort des Geschehens verzeichnet. Abstürze, Steinschlag, Erfrieren, Erschöpfung. Ich denke an den Kriegsfriedhof in Cernay zu Füßen des Harmannswillerkopfes zurück. Dort wurden die Opfer dahin gemäht, auf höheren Befehl an ihre Position kommandiert – hier starben sie durch die Herausforderung an sich selbst und die unberechenbaren Naturgewalten. Ist so ein Tod sinnvoller? Ich kann es nicht beurteilen, der tausendfache Tod am Hartmannswillerkopf war jedenfalls absolut sinnlos, das ist sicher.

Einen anderen Gedanken muss ich auch noch los werden. Auf so einer Radfahrt fährt man öfter an Personen vorbei, die gebrechlich auf einem Balkon oder im Rollstuhl dahin siechen und einem vielleicht mit sehnsuchtsvollen Blicken hinter her sehen. Da fährt man dann bei voller Gesundheit dahin, auf Ziele zu, die diese Menschen in ihrem Leben nie mehr aus eigener Kraft erreichen oder sehen werden. Auch das ist ein Grund, nachdenklich zu werden – ihr wisst schon, was ich meine!

Das Leben geht weiter, ich gehe nicht ins Migros (da gibt es kein Bier) sondern ins Coop, damit ich heute wieder aus der Tüte speisen kann. Langusten Jumbo oder Crevettes geheißen, ein Weichkäse, dazu ein backwarmes Krustenbrot (Baguette Rustique), damit ist die Abendverpflegung gesichert. Nur Ersatzspeichen kann ich in den einschlägigen Bike-Shops nicht bekommen. Die gibt es nur für Mountainbikes (26 Zoll) – so ist das in den Bergen.

Nach dem Speisen empfiehlt mir die nette Dame an der Rezeption noch einen Höhenweg, die Berge würden vielleicht noch glühen, nach 20 Uhr oder so? Umgeben von 38 Viertausendern, so ist zu lesen, da sollte das doch klappen? Es geht einen steilen Weg hinter der Kirche hoch, vorbei an in Holz neuerbauten Hotelkomplexen. Da scheinen sich die Investoren verkalkuliert zu haben, denn das steht alles leer und öde herum. Genaueres ist nicht heraus zu finden. Oben auf den Matten klettere ich bis an eine Schlucht, zum „Edelweiß“ soll es da weiter gehen. Plötzlich springt da eine Gemse in der Gegend herum. Ich kriege sie sogar auf die Linse, leider wird das Bild nur unscharf bei der spärlichen Beleuchtung. Und die Berge beginnen auch nicht zu glühen, sie wollen heute wohl nicht.

Man findet mich zum Schluss in meinem Zimmer 208, das muss ein wenig umgeräumt werden, Nachttisch weg und so, dann kann man mit hochgelegten Füßen das Matterhorn in seiner ganzen Größe bewundern, bis es sich in der Dunkelheit verabschiedet.

13. Tag: Di, 14.6. Zermatt - Oberwald(Wallis), 95 km

Als der Morgen graut, bin ich auf dem Plan. Es ist 5:30. Und da präsentiert sich das Matterhorn, wie ich es auf Postkarten gesehen habe, mit glühender Spitze wie ein angezündetes Streichholz. Wenig später sind schon die schroffen Wände erglüht, danach kann man sich noch mal auf’s Ohr legen. Um Sieben Uhr gibt es Frühstück. Meine liebe Rezeptionsdame hat sich den versprochenen Farben entsprechend gekleidet, ganz in Rosa, das Oberteil selbst gehäkelt oder geklöppelt – an langen Winterabenden, was weiß ich? Jedenfalls freut sie sich über ein Kompliment.

Vielleicht kommt man einmal wieder – viele Orte gibt es inzwischen, wo man mal wieder hin möchte, aber noch viel mehr, wo man noch nicht war. Ich freue mich nun auf die 1000 m Abfahrt über 35 km. Kalt ist es in der Frühe und bei jedem Sonnenfleck wird eine Rast eingelegt. 

Die Handschuhe kommen das erste Mal zum Einsatz. Unten im Tal sind sie dann nicht mehr nötig, es wird wieder ein warmer Tag. Nun stellen sich die gewünschten Erfolge ein. Ich finde eine Fahrradwerkstatt, wo es Speichen regalweise gibt, zahle dann allerdings 5 Franken für 5 Speichen, das ist teuer. In Brig finde ich auch einen Buchladen, der alle gewünschten Veloland-Broschüren vorrätig hat. Ich nehme sozusagen nachträglich die Rhone Route. Das ist zwar teuer, aber man kann in Ruhe nachlesen, was man alles nicht gesehen hat. Außerdem gibt es die Rhein-Route, die habe ich noch im Visier.

Im übrigen bin ich durch diesen Teil des Tales - vom Simplon-Pass kommend - schon einmal vor 15 Jahren auf meiner Alpentour gefahren. Hätte man mir damals gesagt, dass ich 15 Jahre später im Vollbesitz meiner Kräfte hier wieder erscheinen würde, ich hätte aufgejauchzt. Aber was rede ich da: heute sollte ich aufjauchzen!

Nunmehr voll ausgerüstet – der Papieranteil des Gepäcks wird immer mehr – geht es weiter, wollte ich sagen, doch viel weiter komme ich erstmal nicht. In dem Ort Mörel gibt es eine Seilbahn hinauf, von dort oben soll man den Aletschgletscher sehen. Außerdem hat man es hier mit dem Unesco Weltkulturerbe Aletsch zu tun. Das bezieht sich auf die lockeren Siedlungen an den grünen Hängen und zwischen Wäldern, die ich nach einigem Hin und Her alsbald von oben zu sehen bekomme. Man kommt hinauf zur Riederalp, 1925 m, von wo aus man den Aletsch keineswegs sehen kann. Dazu muss man erst noch eine weitere Seilbahn hinauf zur Moosfluh, 2335 m, bemühen. Dort aber ist es so weit. Man schaut über die Kante und da liegt er vor einem: ein erstarrter Strom, schweigend und unbeweglich. Diese Erstarrung ist es, die einen in ihren Bann schlägt. Mein Panoramafoto gelingt nicht ganz, Vordergrund passt nicht, vielleicht bin ich zu aufgeregt.

In die andere Richtung erlebt man das ganze Panorama der Schweizer Zentralalpen von Monte Rosa bis Weißhorn. Auch das Matterhorn reiht sich noch in die Reihe der Viertausender, auch wenn es so von oben und von weitem lange nicht so majestätisch wirkt.

Nach zwei Stunden bin ich wieder unten. Es wäre zu prüfen gewesen, ob man das Fahrrad nicht hätte mit hinauf nehmen können um sich dann schräg an den Hängen talaufwärts vor zu arbeiten. Das ist den Karten zu schlecht zu entnehmen – so muss man bei den Orten Betten und Fiesch noch einige derbe Steigungen bewältigen. Mein Tagesziel heißt Oberwald, und da denkt man, in Niederwald ist es nicht mehr weit. Da irrt man sich dann, denn es sind noch 18 km, und zwar unbefestigt. Ich nehme lieber die Straße und komme so vielleicht bequemer ans Ziel. Das ist das Hotel Furka, die letzte Station vor dem Furkapass (abgesehen von Gletsch und Belvedere).

Die Wirtin ist so nett und sucht mir eine ganze Batterie Kartons raus, damit ich ein paar unbenötigte Sachen nach Hause schicken kann. In einen Karton passt mein ebenfalls nicht benötigter Rucksack genau rein. Ausserdem die nicht mehr aktuellen Karten und Broschüren, Rasierapparat, zweiter Fotoapparat, abgelaufene Batterien, kurze Hose. Am Schluss sind es 5 kg, die allerdings 38 CHF Versandkosten verursachen, zudem ist ein Zollformular mit 7 Durchschlägen auszufüllen. Da merkt man noch nichts von dem vereinigten Europa, aber die Schweiz gehört ja noch nicht dazu, und aran wird sich wohl auch so bald nichts ändrern, odr?

Sonst geht es mir gut in Oberwald, es gibt Leber Berliner Art mit Röstis – ganz aus der Gegend. Draußen rauscht die Rhone, das kann einen gar nicht stören, weil mann es nicht abstellen kann. Ich stelle mir einmal vor, das sei ein Aggregat, dann würde man schier verrückt. Komisch so was, alles psychisch... Das Geläute der Kuhglocken kommt auch noch dazu. Das Fußballspiel der Europameisterschaft, das mit seinem lästigen Lärm im Fernsehen läuft, wird bald abgestellt, so ist es viel schöner.

14. Tag: Mi, 15.6. Oberwald – Disentis, 72 km

„Welcher Berg ist das eigentlich, den man da von überall sehen kann?“ frage ich beim Frühstück. Das ist das Weißhorn, 4506 m, das weit hinten über dem Tal thront. Nun beginnt für heute der anstrengende Teil. Zwei Pässe stehen auf dem Programm: Furka, 2431 m, und Oberalppass, 2044 m. Früher gab es auch mal eine Eisenbahn dort hinauf, die soll wohl wieder in Gang gesetzt werden. So kann man als Abwechslung beim Aufstieg die Linienführung dieser Bahntrasse studieren. Nach ein paar Kurven kommt man dann nach Gletsch,1757 m. Dort ist ein großes Hotel und es zweigt der Grimselpass ab, 2165m, dessen Straße sich im Zickzack den Hang hinauf schlängelt. Dahinter liegt das Einzugsgebiet der Aare, dem dritten großen Fluss in der Schweiz. Das Quellgebiet aller drei liegt an dieser Stelle ganz nah beieinander. Nimmt man noch Reuss und Tessin (Ticino) hinzu, so sind es 5 Flüsse, die alle in dieser Region ihren Ursprung haben..

Beim weiteren Aufstieg holt mich ein schwer bepackter Radler ein. Das ist Bernard aus Kanada, 5 Monate in Europa. 40 kg schleppt er mit und hat unverständlicher Weise beim Passaufstieg 3 volle Getränkeflaschen in den Rahmenhaltern. Wir sind doch hier nicht in der Wüste. Ich mache ein Foto von ihm und gebe ihm meine Email Adresse, mal sehen ob er sich mal meldet. Heute will er noch auf 130 km kommen. Dann zieht er weiter, da kann ich nicht mithalten, abgesehen davon, dass ich das eine oder andere Foto machen muss. Hier sind es z.B. die gelben Alpenanmonen, die ich zuvor noch nirgendwo gesehen hatte. Dazu muss man über die Leitplanken klettern und auf einem steilen Hang herumkraxeln. Aber es tut dem Bewegungsapparat als Abwechslung gut.

Man erreicht dann eine weitere Zwischenstation, das ist Belvedere am Rhone Gletscher. Ich gebe ausnahmsweise mal eine Internetseite an, wo man die traurige Geschichte des Rhone-Gletschers in den letzten 150 Jahren studieren kann:

http://www.unifr.ch/geoscience/geographie/glaciers/Les%20Langues/Rh%F4ne/Rhone.htm"

Allen anderen Gletschern der Alpen und anderer Gebirge weltweit ging es natürlich nicht besser, alle haben wesentliche Teile ihres Umfangs verloren. Am Belvedere halten nun die Busse und die sensationshungrigen Busgäste schwärmen aus. „Toiletten 60 Rappen, Eishöhle 5 Franken“ informiert eine Reiseleiter stereotyp alle, die vorbeikommen. Als Radfahrer steht man zitternd unter irgend einem Vordach, um sich vor dem Regen zu schützen. Einer kommt von oben, der muss sich erst mal trocken legen. Es ist ein Franzose. „Soleil?“ fragt er und deutet talwärts. „May be“ sage ich. Dann geht es weiter, die letzten Steigungen bis zur Passhöhe. Der Furka-Pass ist einer der höchsten Pässe in den Alpen, gut dass ich das erst hinterher herausgefunden habe. An einer Mauer ist hier ein Zitat angebracht, von einem gewissen J.W.G. und das lautet:

Ich bemerke, dass ich in meinem Schreiben der Menschen wenig erwähne, sie sind auch unter diesen großen Gegenständen der Natur, besonders im Vorbeigehen, minder merkwürdig.

Das gibt irgendwie Stoff zum Nachdenken. Jener Herr war im Jahre 1779 (Briefe aus der Schweiz) hier und denkt mal an, wie groß der Rhone-Gletscher damals noch war, der Eisbruch hat fast bis hinunter nach Gletsch gereicht. Wunderbar, wie umständlich aber wohlklingend ein Dichter einen einfachen Gedanken auszudrücken vermag.

Damit ist die Grübelpause am Furkapass zuende und es geht an die Abfahrt, warm angezogen und mit Handschuhen. Kalt bleibt es trotzdem. Wegen der etwas holperigen Straße kann man es auch nicht so laufen lassen. Die Finger sind bald gefühllos. Dafür wird es um einen herum wieder grüner. Am Schluss eine lange gerade Strecke bis Andermatt. Auch hier in versammelter Eintracht unsere fernöstlichen Freunde. Ich mache mich über einen Bankautomaten her, dann kehre ich mich den Kehren des Oberalppasses zu der nun auf einen wartet. Und wer kommt da herangezockelt: der gute Bernard! Er hat in Andermatt „getankt“, d.h. zu Mittag gegessen. Dann zockelt er weiter und ist dann irgendwann aus meinem Gesichtsfeld entschwunden. Wieder gesehen habe ich ihn nicht und weiß nicht, wie weit er diesen Tag noch gekommen ist. Wir bewegen uns übrigens wieder parallel zu einer Bahnstrecke. Hier fahren feuerrote Züge, manchmal mit gläsernen Panoramawagen, da steht dann womöglich „Glacier-Express“ an der Zugmaschine. Ich darf aus dem Internet abschreiben:

Mit den berühmten Schweizer Gebirgsbahnen von St. Moritz nach Zermatt oder umgekehrt, vom Piz Bernina zum Matterhorn. Eine 7 1/2- Stundenbahnfahrt über 291 Brücken, durch 91 Tunnels, über den 2033 m hohen Oberalppass. Eine Panoramafahrt durch die Hochalpen im Herzen der Schweiz.

In den Panoramawagen sitzen ältere Damen und lösen Kreuzworträtsel. Kaum ist der Zug durch, ertönt ein scharfer Pfiff. Der Zug kann es nicht gewesen sein, der ist schon weg, ein Vogel – oder ein Murmeltier? Sicher letzteres, das sich hier als Bahnwärter aufspielt. Zu entdecken ist es aber nicht. So kommt man unversehens an der Passhöhe an, da ist noch ein See halb zugefroren. Ein paar Motorradfahrer stoppen und fotografieren sich gegenseitig ob der vollbrachten Leistung. Auch ein Tandem mit einem Ehepaar taucht auf. Gerade kann ich mich vor diesen noch in die Abfahrt stürzen. Viel Bremsen bei engen Kehren bis man unten im Tal des eigentlichen Vorderrheins ankommt. Es gibt auch noch einen Hinterrhein, der später kurz vor Chur zu uns stoßen wird.

Es ist hier, weiter entfernt von den Zentralalpen, eine grünere und lieblichere Landschaft. Aber auch sehr lawinös, wie man an den Lawinenschneisen oder Hangverbauungen erkennen kann. Ich habe für heute genug, die Finger sind immer noch gefühllos. Im nächsten größeren Ort quartiere ich mich ein, wieder Hotel Furka, diesmal auf der anderen Seite als gestern. Im Anmeldezettel solle ich auch mein Geburtsdatum eintragen, sonst gäbe es Reklamationen. „Ich bin da immer etwas eitel“ sage ich und trage das Datum ein. Da gerät die Chefin ganz aus dem Häuschen. „Das ist ja nur um einen Tag mit meinem“ juchzt sie auf und kann sich gar nicht beruhigen. „Na, dann haben wir in diesem Jahr wohl schon schön gefeiert“. Damit bin ich wieder einmal fein aus der Rolle des anonymen Gastes heraus getreten.

Der Rundgang führt mich nur bis zu der kleinen Kirche, die von innen auch ganz nett ist. Natürlich gibt es hier auch das barocke Benediktinerkloster St. Martin. Die Klosterkirche dort soll der schönste Sakralbau Graubündens sein. Dorthin schaffe ich es nicht mehr, sondern widme mich den Cevapcici (19 CHF). Telefonieren kann ich nicht, die Free and Easy Karte (E . plus) ist aufgebraucht.

15. Tag: Do, 16.6. Disentis - Buchs, 120 km

Es war richtig, gestern so früh aufzuhören, denn heute ist wieder Bilderbuchwetter. Die Farben stimmen! Voran kommt man erstmal nicht so schnell, da muss erst eine Kuhherde vorbeigelassen werden. Danach ist der Weg auch nur selten in seiner vollen Breite benutzbar, denn die Kuherde hat einige Spuren hinterlassen. Nach Passieren eines idyllischen aber hochgelegenen kleinem Ort geht es schließlich meistens bergab. Bevor wir uns einer großen Besonderheit nähern, wollen wir noch einmal Rast machen in Valendas, da soll der größte hölzerne Dorfbrunnen Europas sein. Sieht auch alles ganz gut aus.

Die Besonderheit besteht darin, dass hier vor 14 000 Jahren der größte Bergsturz Europas stattgefunden hat, ganannt Flimser Bergsturz. Die Felsmassen haben dabei dem Rhein das Bett versperrt, welches er sich erst in Form eines Canyons wieder graben musste. Durch diesen Canyon kann man nur wandern oder mit der Bahn hindurch fahren. Es hat sich aber gezeigt, dass es wohl am interessantesten ist, die ausgeschilderte Radstrecke zu wählen, weil sich dort auch eindrucksvolle Einblicke von oben auf tun. Die ganze Angelegenheit besteht natürlich durchweg aus Schutt und Schotter, denn die einstigen Felslagen sind durch den gewaltigen Felssturz weitgehend zerlegt worden.

Damit sind wir fast schon in Chur. Außerhalb auf einem großen Platz übt die Schweizer Armee. Heute lagert man sich im Schatten unter Bäumen, da ist man dann im Ernstfall von der feindlichen Luftaufklärung schlecht auszumachen. Ansonsten gibt es wieder einen Chur-Schock durch Verkehr, Klima und Krach. An einem Platz, er heißt Regierungsplatz, ist es schön ruhig unter Linden und Ahorn, da kann man sich abregen.

Nach der Vereinigung mit dem Hinterrhein haben wir nun schon einen respektablen Fluss, auf dessen Dämmen man flott dahin radelt. Damit es nicht zu langweilig wird, wird man auch mal über Land geschickt , zu dem markanten Schloss Marschlins beispielsweise. Aber dem nicht zu nahe kommen, alles privat wie zu lesen ist. Ein paar kleine Berge hat man einem auch noch in den Weg gestellt, damit man nicht zu übermütig wird. Das wird man dann spätestens hinter dem Ort Maienfeld/Fläsch (Heidis Heimat, habe ich das im Vorbeifahren gelesen? Aber sicher: Heididorf ist im Internet zu finden).

Nun geht es endgültig auf dem Rheindamm schnurgeradeaus, soweit man schauen kann. Eigentlich wollte ich in Sargans Station machen, doch ich rausche daran vorbei. Eindrucksvoll sind die Orte Triesen und Triesenberg, die in der Abendsonne an den Hängen ein farbenfrohes Bild abgeben. Danach folgt schon Vaduz mit dem Fürstentum Liechtenstein. Davon ist nicht viel zu sehen, bis auf die Burg von Vaduz, die wohl auch von Briefmarken her bekannt ist.

Für heute komme ich in Buchs raus. Dort ist eine lebhafte Industrie, die verkehrsberuhigte Bahnhofsstraße bildet das Geschäftszentrum. Das war’s dann schon. Quartier finde ich im Hotel Hirschen an der St. Gallener Straße, und damit nicht so ruhig. Gegenüber ist auch ein Pferdemetzger, da werden auf Plakaten die Vorzüge des Pferdefleisches erörtert. Aber das Thema hatten wir ja schon. Nebenan liegt an einem kleinen See der Ortsteil Werdenberg als Holzbausiedlung. Im Gastraum des Hotels hängen zwei riesige Trophäen: das Gehörn eines Steinbocks, über 1 m lang, sowie ein mächtiges Hirschgeweih. Daher wohl der Name dieses Hauses.

16. Tag: Fr, 17.6. Buchs – Stein am Rhein, 145 km

Noch vor acht Uhr komme ich weg. Das ist immer gut, weil es morgens meistens noch windstill ist, und heute wird der Wind von vorn wehen. Man muss sich noch den altertümlichen Ort Altstätten ansehen. Gemäß der Broschüre frage ich eine Frau nach dem „bergseits der Marktgasse liegendem Laubengang“. „Das ist die Marktgasse selbst, die ist der Laubengang“ wird geantwortet. Wieder einmal guckt einer dumm aus der Wäsche. Ist aber auch ziemlich von Autos verstellt, die ganze Angelegenheit.

Danach ist man schon im Mündungsdelta zum Bodensee, dem größten Süßwasserdelta Europas. Das freut einen. Der letzte Ort heißt Fussach, danach NSG. Den Brachvogel kann ich dennoch nicht entdecken. Auf den würde man unter Umständen auch durch seine grellen Schreie aufmerksam. Am See ist dann doch ein Ausflugsrestaurant und ein Campingplatz. Schließlich geht es an den alten Rhein, 15 km Umweg bin ich gefahren, um diese Region zu sehen, das hat sich eigentlich nicht gelohnt. Es hat die Organisatoren des Radweges sicher auch einige Mühe gekostet, die Route zwischen den Autobahnen, deren Auffahrten und der Eisenbahnlinie hindurch zu lotsen. In Rorschach landet man fast auf den Bahnsteigen des Bahnhofs.

Irgendwie bin ich heute von diesem Teilstück auf der Schweizer Seite des Bodensees nicht so angetan. Vielleicht liegt das am starken Radverkehr, da fühlt man sich nicht so individuell. Oft geht es immer an der Bahn lang. Diese Strecke ist auch für Inline-Skater ausgeschildert. Ich bin froh, dann irgendwann in Kreuzlingen und Konstanz anzukommen. Hier gibt es ein paar Sachen zu erledigen. Erstmal lecker Euros vom Bankomat. Dann eine neue Free & Easy Karte für das Handy. Das geht alles gegenüber vom Bahnhof. Dann noch zum Obermarkt für ein Foto vom Hotel Barbarossa, wo ich einmal auf einer Dienstreise genächtigt hatte. Nebenan ist eine Stadtführung zugange, da wird von Prangern und Galgen berichtet und die Leute gruseln sich.

Wieder aus Konstanz herausmogeln zum Grenzübergang Tägerwilen, da ist man wieder in der Schweiz. Dieser Teil des Bodensee-Radweges ist wiederum sehr schön, Orte wie Ermatingen, Berlingen oder Steckborn haben hübsche Häuser. Auf dem See, dem Untersee tummeln sich die Surfer bei starkem Wind (der von vorn kommt). Wie an der Schnur gezogen fegen die über das Wasser. Einige lassen sich von einem Drachen ziehen, das nennt man dann Kite-Surfing.

Während ich mich so gegen den Wind voran kämpfe, habe ich mir ausgedacht, dass ich morgen einen Ruhetag in Stein am Rhein einlegen werde. So buche ich im Hotel Grenzstein gleich für zwei Nächte ein. Ob ich einen Adapter für den Föhn brauche, werde ich gefragt. Einen Föhn habe ich nun gerade nicht im Gepäck. Könnte man höchstens zum Wäschetrocknen gebrauchen. Mein Zimmer hat sogar einen Balkon mit schöner Aussicht, wenn die Tankstelle vor der Nase nicht wäre. Nichts ist perfekt.

Nach einem Holzfällerteller mit der musikalischen Untermalung: „Drunten am Bach, da steht an Haus mit am Schindeldach...“ geht es einem dann schon wieder besser.

17. Tag: Fr, 19.6. Stein am Rhein, 95 km

Zunächst einmal hinunter nach Stein zum Fotografieren., aber es gibt noch keine Sonne. Heute wird hier ein Fest stattfinden, es sind eine Menge Verkaufsbuden aufgebaut. Der ganzen Sache wird lieber der Rücken zu gekehrt und man macht sich auf in Richtung der Stadt Radolfzell. Immer am See lang, schön zu fahren, viele Tagesfahrer.

Kurz vor Radolfzell ist die Mündung der Aach in den Zeller See mit einer Schautafel. Da weiß ich schon, wo ich als nächstes hinfahre. Am Bahnhof in Radolfzell ist die Info, dort bekomme ich auch eine Radkarte der Gegend. In der Stadt schaue ich mich nur kurz um, kann später aber nachlesen, was ich alles verpasst habe.

Natürlich weiß jeder, der meine Geschichte mit der Donauversickerung kennt (1995), wo ich nun hin fahren will: zum Aachtopf, der größten Quelle in Deutschland. Dort kommen die Wasser wieder zum Vorschein, die in der Donauversickerung verschwinden, sich also entschlossen haben, statt in das schwarze Meer in den Ärmelkanal zu fließen.

Auf dem Weg dorthin passiert man das Friedinger Schlössle, 543 m. Um mir nicht nachsagen zu lassen, man lasse alles links liegen, fahre bzw. schiebe ich dort hinauf. Das hätte ich mir sparen können, denn dort ist heute wegen geschlossener Gesellschaft keine Besichtigung möglich. Es findet das hier bekannte „Rittermahl“ statt. Da bin ich nicht eingeladen. Man hat aber einen schönen Blick auf den Hohentwiel über Singen. Fahre ich eben weiter über Volkertshausen (da hat noch ein Supermarkt offen) nach Aach. Der Aachtopf ist ausgeschildert, aber viel zu sehen gibt es da nicht. Am interessantesten ist noch die Schautafel. Die schönste Quelle in Deutschland ist dann doch wohl der Blautopf in Blaubeuren.

Auf der Rückfahrt bietet sich nun Schloss Langenstein mit Fasnachtsmuseum an. Das Schloss ist fest in den Händen von Golfern, d.h. rings herum von einem 18 Loch Golfplatz umzingelt. Das Ganze nennt sich Country Club Schloss Langenstein. Einer von denen sucht verzweifelt seinen Golfball am Straßenrand. Da ist wohl ein Schlag in die Hose gegangen. Jedenfalls ist der völlig fertig. Was macht ein Golfer, wenn er seinen Ball nicht wieder findet? Harakiri? Da muss man sich mal schlau fragen (Auskunft einer Kollegin, die ist sogar Vereinsmeisterin: „Er muss einen Provisorischen spielen und bekommt einen Strafschlag“). Im nächsten Ort, der heißt Wiechs, ist schon wieder ein Golfplatz, der beginnt gleich an dem kleinen Kirchlein. Um über Land zu fahren kann man sich nun den ausgeschilderten Wegen anvertrauen. Dort ist leider für gewöhnlich nicht angegeben, wohin es geht, sondern die Wege sind nummeriert. So wechselt gelegentlich die Wegenummer und man weiß dann schließlich nicht mehr, wo man sich befindet. Ich muss daher einen Herrn mit Hund als GPS-Ersatz bemühen. „Da und da und da geht’s nach Beuren“. Der einzige Ort, wo ich nicht hinkomme, ist Beuren, lande aber wieder in Friedingen. Da ist jetzt der Bär los. Es findet eine Dorfhochzeit statt, Hunderte haben sich auf dem Kirchplatz versammelt. Das Brautpaar wird von der Feuerwehr in einen Hubkorb gesetzt und dann mit der Drehleiter hochgekurbelt so hoch es geht. Höher als der Kirchturm!

Ich will noch nach Singen gleich um die Ecke und im Tal. Da hat man einen nagelneuen Radweg im Wald angelegt, wie überhaupt die ganze Gegend auf Radler eingestellt zu sein scheint. Das ist gut so. Hauptattraktion in Singen ist der Hohentwiel, 686 m. Da muss ich nun aber nicht auch noch rauf, bei allem was recht ist. Eine Rote Grillwurst in der Fußgängerzone, dann geht es „heim“. Neben der Strecke zurück zum Rhein und in die Schweiz ist praktisch eine zweite Straße nur für den unmotorisierten Verkehr – kein Radweg sondern eine Radstraße. So kommt man entspannt wieder nach Stein. Am Ortsanfang entdecke ich endlich, was ich schon lange suche: eine Pizzeria.

Nach dem Regenerieren im Hotel Grenzstein fahre ich mit dem Fahrrad zu der Pizzeria. Da genieße ich neben einer Pizza Marinara auch das Fußballspiel Deutschland – Lettland auf einer Großleinwand. Genießen ist zu viel gesagt, Pizza ja, aber auf der Leinwand zittert das Bild und alles ist doppelt: zwei Bälle, zwei Schiedsrichter, alle Spieler doppelt und so auch die Tore. Trotzdem fällt kein Tor.

Auf dem Rückweg werde ich bei einem überraschenden Regenschauer dann leider ziemlich nass, weil ich keine Regenklamotten mitgenommen hatte. Und die Hotelgarage für die Fahrräder ist inzwischen gerammelt voll, da muss mein Rad unter einem Vordach nächtigen.

18. Tag: So, 20.6. Stein am Rhein - Säckingen, 115 km

Die weitere Schweizer Rheinroute verspricht noch einiges. Von Gailingen nach Diessenhofen führt eine schöne Holzbrücke über den Rhein. Dann ist man aber auch schon in Schaffhausen, da geht es erst richtig zur Sache. Es kann einem passieren, dass man nur der Beschilderung zum Rheinfall folgt und dadurch die Besichtigung der sicherlich sehenswerten Altstadt verpasst. Wenn es endlich steil hinauf geht zum Schloss Laufen hat man es geschafft, die bedeutendste Sehenswürdigkeit am Rhein (neben Deutschem Eck in Koblenz oder Loreley). Die Besichtigung ist nur vom Schloss Laufen aus möglich, kostet 1 €, das lohnt sich aber. Es gibt einige Aussichtsplattformen, Treppen die hinunter führen, sogar kleine Tunnel durch Felsvorsprünge. Wenn da gerade eine temperamentvolle italienische Touristengruppe zugange ist kann es einem passieren, dass man bei der ganzen Gestikuliererei in einem Tunnel eine verpasst bekommt. Sonst wird viel und gegenseitig fotografiert – gerade ist die Sonne heraus gekommen. Ach ja, der Rheinfall. Schon beeindruckend, besonders, weil man ganz nah an die gewaltig strömenden Wassermassen heran kommt. Auch Boote fahren hinüber zum Mittelfelsen, da wird man vielleicht sogar nass von der Gischt.

Am Eingang oben sitzt ein älterer Herr und verdient seinen Lebensunterhalt mit seiner Geige. Der hat sich auf die Besucher eingestellt, was die Nationalität angeht. So fiedelt er unentwegt und ohne Pause: Mi sono innamorato di Marina ... Irgendwie hat das was, wenn man dem eine Weile lauscht. Bald hat man den ganzen Trubel hinter sich, findet sich nun allerdings vor einem heftigen Regenschauer Schutz suchend in einer eigens erbauten Radlerstation wieder. Und das ist oberhalb des Ortes Rheinau mit einer Benediktinerabtei. Bei schönem Wetter wäre man vielleicht hinunter gefahren.

Dafür geht es nun auf einem schotterigen Weg ein paar km durch den Wald und es regnet weiter. Dabei werden Füße, Rad und Gepäcktaschen einigermaßen eingesaut – hätte man doch lieber die Straße nehmen sollen. Dann fährt man über eine Brücke eines Rhein-Zuflusses. Da kommt gerade eine Dame vom Uferweg herauf. „Wie heißt denn dieser Fluss hier?“ frage ich. „Das ist die Thur“. Da wird mir auch klar, warum ich die ganze Zeit im Thurgau herumgegeistert bin. Die Dame will mich dann noch auf weitere geschotterte Wege verweisen, die viel schöner seien. Aber mein Bedarf ist gedeckt.

Nun fährt es sich auch so sehr schön weiter teilweise durch Auwälder aber auch über ein paar Berge (am Irchel). In dem Ort Kaiserstuhl erlebt man dann wieder was. Da wird gerade ein Turm (Römerturm, stammt aber aus dem Mittelalter) für eine Besteigung geöffnet (kostenfrei). Eine Gruppe mit Tandems und Rückspiegeln an den Brillen wartet schon auf Einlass. Die kommen aus Amerika und freuen sich auf das „Alte Europa“, na also.

Oben auf dem Turm hat man eine schöne Aussicht, wie das auf Türmen so ist. Eine der Tandemdamen fragt mich, was das für ein Rad dort oben sei. Das sieht aus wie so ein Tretrad, in das man jemanden einsperren kann, damit er durch beständiges Laufen das Rad in Drehung versetzt. Wozu es gedient haben mag, können wir uns nicht erklären. Vielleicht als Kran oder Lastenwinde? Man hätte ja auch die Dame am Eingang fragen können. Ein Teil der Tandemgruppe verschwindet in der nahen Gastwirtschaft, ein anderer begibt sich mit oder ohne Tandem auf eine Ortsbesichtigung. Ich setze mich unter einen Baum – und klacks! – hat mir ein Vogel auf den Kopf geschissen. Für so was muss man also erst knapp 2000 km fahren – aber es soll Glück bringen.

Das Rheintal wird nun allmählich weiter. In dem Ort Koblenz findet dann die große Vereinigung des Rheins mit der Aare statt. Der Rhein kann froh sein, dass er seinen Namen behält, denn die Aare bringt mehr Wasser mit sich. Der hätten wir übrigens von Gletsch über den Grimsel-Pass aus auch schon folgen können. Das wäre dann die Aare-Route (Route 8) gewesen. Gleich hinter der Einmündung liegt auf deutscher Seite die Stadt Waldshut. Hier wird in einer der nächsten Nächte das Epizentrum eines kleinen Erdbebens sein (3.8 auf Richter Sk.). Da merkt man jetzt noch nichts davon.

Einige Zeit später wird es etwas technisch beim „Stern von Laufenburg“. Das ist eine internationale Stromverteilerzentrale. Ein Wald von Isolatoren, von denen ich nur einen Bruchteil auf das Foto bekommen kann. Hoffentlich blicken die Experten da noch durch. Ich bin für heute froh, Säckingen zu erreichen, noch dazu über eine gedeckte Holzbrücke – der längsten Europas. Dabei quert man nebenbei die Grenze nach Deutschland.

Am Bahnhof ist eine sehr gute Informationstafel, wo ich mir ein Hotel heraussuchen kann. Man hätte auch im Goldenen Knopf, gleich am Münsterplatz absteigen können, das erste Haus am Platze. Da wäre es dann doppelt so teuer. Ich frage mich zum Hotel Schneider durch. Da ist zwar alles verrammelt, aber nach Klingeln öffnet eine nette Dame und ich kriege ein schönes Quartier. Zum Essen lande ich mal wieder beim Chinesen (Hongkong). Irgendwie erscheint mir hier alles spottbillig, nachdem man aus der Schweiz herüber kommt. Deshalb gibt es heute was mit Ente, und tatsächlich, ein ganzer Berg davon wird serviert.

Ein Rundgang offenbart: St. Fridolinsmünster, gotischer Bau mit barockem Touch, im Moment ist gerade Messe, da kann man nicht hinein. Diebsturm, Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlage, Gallusturm, wieder instand gesetzt durch die Bad Säckinger Narren. Und wie war das mit dem „Trompeter von Säckingen“? Das ist ein Versepos von Joseph Victor von Scheffel, dort kommt auch eine "epische Charakterkatze" vor, und die heißt Kater Hiddigeigei.

19. Tag: Mo, 21.6. Säckingen - Colmar, 123 km

Die letzten paar Kilometer der Rhein-Route bis Basel bieten keine großen Attraktionen mehr. Ab Rheinfelden wird der Rhein schiffbar. Dort trifft man sich auch mit der Nord-Süd-Route (Route 3), die von Basel nach Chiasso (oder umgekehrt) führt. Nach Basel hinein rollt man dann nicht am Rhein entlang, sonder kommt von Süden immer mit der Straßenbahnlinie 14. Und dann bin ich da, wo ich vor über einer Woche schon einmal war: an der mittleren Brücke. Inzwischen bin ich fast um die ganze Schweiz geradelt und um Unmengen an Eindrücken reicher. Als ob das nun nicht bald einmal genug wäre...

Nein, raus aus Basel, zwischen Baustellen und Schwerlastern. Jetzt habe ich nur noch die Michelinkarte als Orientierung und man muss sozusagen lernen, wieder als selbständiger Mensch zu agieren. Ich habe mich schon auf ein Vorankommen auf der Landstraße eingestellt. In dem Ort Rosenau entdecke ich aber den Canal Rhone du Rhin. An dem führt, angelegt für unsere französischen Sonntagsfahrer, natürlich ein vorbildlicher Radweg entlang. Den hätte man schon von Basel aus benutzen können. Nun blüht man auf. Und wo weht der Wind her? Leicht zu raten, wenn ihr mich so dahin brausen seht!

Bald ist auch Mulhouse ausgeschildert, bis dort kann man am Kanal fahren, der eigentlich bei Kembs in den Rhein mündet. Ab da ist der Weg sogar asphaltiert. Nach Mulhouse rein zu fahren schenke ich mir, was soll ich da. Ich befinde mich auf einem Kreisverkehr, da steht nur eine Richtung zur Verfügung, alles andere sind Autobahnauffahrten. Man kann sicher besser Richtung Colmar gelangen als auf der D 201 über Battenheim. Am Schluss gibt es aber noch ein paar schöne Nebenstraßen und Ortsdurchfahrten mit Oberentzen – Niederentzen und Oberhergheim – Niederhergheim. Und wie sah es in Ste Croix en Plaine aus? Das kriege ich wiederum nicht auf die Reihe.

Aber in Colmar muss man sich die Augen reiben. Ich frage erst mal eine Frau mit Tochter nach dem Touristenbüro. Da müssen sie mich erst ein Stück begleiten, damit man das besser erklären kann. Aber erstmal muss ich ein Foto machen, so wie das hier aussieht. Die Touristen Information ist in der Nähe der Dominikanerkirche bald gefunden. Ich kann mir das billigste Hotel aussuchen, das liegt sogar gleich um die Ecke. Größeren Comfort darf man dort nicht erwarten und der Zimmerausblick geht auf einen riesigen Parkplatz raus.

Essen werden wir heute wieder in einer Pizzeria, trotz der viel gepriesenen Elsässer Küche: Sauerkrautplatte, Quarkkuchen und Gugelhupf? Ich gehe ins La Doles oder Le Sereno? Kriege ich gar nicht mehr auf Reihe. Wie üblich führe ich gegen Schluss so gut wie keine Notizen mehr, weil man sich hinterher sowieso an alles erinnern kann. Denkste! Sicher war es wieder eine Pizza mit Meeresfrüchten – wie ich mich kenne. Nun ist aber was los auf den Straßen. Heute ist Musikfestival. Tausende von Menschen auf den Beinen. An jeder Straßenecke spielt eine andere Band – und das so laut wie möglich. Da wackeln die alten Häuser. Auch bei mir merke ich, wie das Rippenfell oder sonst was vibriert. Das fühlt sich gut an. Manche Darbieter haben nicht so viel drauf: da läuft eine Schallplatte und man betätigt sich an den Reglern um rauszukitzeln, was die Woofer hergeben. Bis bald 22 Uhr laufe ich herum und verlaufe mich schier. Danach ist dann bald Ruhe und man baut alles wieder ab.

20. Tag: Di, 22.6. Colmar - Strassburg, 97 km

Am Morgen muss ich wenigstens noch Klein Venedig (Petite Venice) besuchen und ein Foto machen. Das finde ich von allein gar nicht wieder, ich muss schon den Stadtplan zu Hilfe nehmen. Für den letzten Tag habe ich mir die Elsässische Weinstraße: La Route des Vins de Alsac vorgenommen. Da reihen sich an die 20 Weinorte aneinander wie die Perlen an der Schnur und einer schöner als der andere. Ausgediente Weinpressen stehen zur Dekoration an den Straßen. Oft bepflanzt mit Blumen, die Orte nennen sich sowieso alle Ville des fleurs oder so. Mit Recht. Leider bekomme ich etwas Regen ab, das zwingt dann öfter zum Rasten. Einmal kommt ein Herr heran gezockelt und fragt mich aus. Er war gestern auch in Colmar, bei dem Musikspektakel. „Dass ich da überhaupt ein Quartier gefunden habe“ sage ich. „Die meisten Besucher kommen aus der Umgegend“ sagt er, das hätte ich mir beinahe schon gedacht. Und in Braunschweig, ja da sei er in den achtzigern auch schon gewesen. Von hier gibt es auch einen Radweg hinüber nach Emmendingen in Deutschland (Radweg Villé – Elzach). Ich bleibe aber lieber auf der Weinstraße.

Bei einer anderen Pause gelingt mir vor der spiegelnden Scheibe einer Bank das einzige Foto von mir selber, damit man mir auch alles glaubt. Nun gibt man eine neu erworbene Kamera nicht gern aus der Hand und mit dem Selbstauslöser oder Fernauslöser habe ich noch keine Experimente gemacht. Nachher löscht man noch alles - nach einer Tour ist der größte Besitz die fotografische Ausbeute.

Hinter Obernai endet die Weinstraße irgendwie und man wendet sich ostwärts Richtung Strassburg. Ich will am nächsten Tag von Offenburg einen Zug nach Hause nehmen. Nun hätte ich wissen müssen, dass von Molsheim über Strassburg nach Offenburg ein Europäischer Radwanderweg führt. In Unkenntnis darüber fahre ich weniger angenehm auf der D392, vorbei am Airport Str.-Entzheim auf Strassburg zu. Dabei kommt mir wenigstens die Idee, über Nacht in Strassburg zu bleiben und nicht in Offenburg. Da wäre man ja bescheuert. Ich brauche auch keine Touristeninformation, das Hotel weiß ich schon: Hotel Vosges am Bahnhof. Wenn es das noch gibt. Da war ich 1994 schon mal.

Das Hotel gibt es noch. Es hat noch einen Fahrstuhl alten Stils, im Drahtkäfig alles offen. Ich führe mich gleich als Stammgast auf. Tatsächlich bin ich noch im Computer gespeichert. Da ich mich damals hoffentlich ordentlich aufgeführt habe, macht das ja nichts. Das Zimmer geht auf den Bahnhofsvorplatz raus. Etwas laut. Der Bahnhofsplatz war vor 10 Jahren eine einzige Baustelle. Heute ist es eine einzige graue öde Fläche. Nicht einen Blumenkübel hat man dort aufgestellt. Unverständlich! Darunter ist ein Einkaufszentrum. Aber die Sonne scheint oben!

Trotzdem gehe ich zum Bahnhof wegen Stadtplan und evtl. Fahrkarte. An der Information stellt man sich dumm an und kann mir keine Verbindung mit Fahrradtransport heraus suchen. Auch mit der deutschen Sprache hapert es entschieden. Will ich mal nicht meckern, bei mir ist Französisch auch gleich Null. Aber ich lebe ja auch nicht nahe an der Grenze und bin nicht am Informationsschalter des Strassburger Hauptbahnhofs beschäftigt. Muss ich also morgen doch noch mit dem Rad nach Offenburg fahren.

Nun wird Strassburg abgespult: Place Kleber, Gutenbergplatz, Münster, Petit France. Zum Teil noch schön in der Sonne zum Fotografieren. Zum Abschluss zum Chinesen, der befindet sich gleich neben dem Hotel. Kalamares oder Crevettes war es wohl. Danach werden die Beine hoch gelegt.

21. Tag: Mi, 23.6. Strassburg - Offenburg, 30 km

Von hier weiß ich, dass es den ausgeschilderten Fahrradweg gibt, finde ihn auch gleich an der Grenze nach Überqueren der Rheinbrücke in Kehl. Dann geht es immer auf dem Damm des Flusses Kinzig entlang. Ein Musterbeispiel ausgekofferter Flusslandschaft. Da muss man sich nicht über die Jahrhunderthochwasser wundern, wenn man wie hier ehemalige Auwälder und Überflutungsflächen in Landwirtschafts-, Siedlungs- oder gar Industrieflächen umfunktioniert hat. Immerhin hat man dazwischen die Radwege gut ausgeschildert.

In Offenburg bekomme ich eine Verbindung innerhalb der nächsten halben Stunde mit dem IC Bodensee, der von Konstanz kommt und bis Stralsund fährt. Nur in Hannover muss ich umsteigen. Im Zug sind dann nach und nach mehr als 15 Fahrräder – und mir hat man keine Reservierung gegeben. Irgendwie klappt es aber doch, obwohl sich da einer lauthals beschwert, dass ein anderes Fahrrad an seinem Platz hängt. Vielleicht war es meins? Da bleiben wir lieber ganz unauffällig.

Damit ist die Reise zu Ende. Drei Wochen sind für eine Radtour eine sehr lange Zeit, in der sich fast schon zu viele Eindrücke häufen. Darum schreibe ich immer alles auf, denn sonst geht doch zu vieles durch das Sieb des Gedächtnisses. Da sind vielleicht auch Dinge erzählt, die allgemein nicht von so großem Belang sind – dann waren sie hoffentlich wenigstens lustig.