Land's End to John O' Groats 12.6.-27.6.1999

Eine Radreise durch England, Wales und Schottland

Bevor hier irgend etwas über die Tour berichtet wird, sollen ein paar Zeilen stehen, die während langer Anstiege oder anläßlich anderer geistiger Hochstimmung sich im Kopf zusammengebraut haben, natürlich in Englisch, wie es sich gehört:

Thanks to the God of health,
thanks to the Gods of the weather and the wind,
thankyou to my wife who patiently stayed at home,
thanks to my bike except the last two days,
and thankyou to the bird who shit on my head at the very last day before I went out.

So!

Planung

Wie kommt man, dazu, sich so einer Tortur zu unterziehen? Oder ist es keine? Im Internet sind mehrere Berichte über die "End-to-End-Tour" in England zu finden, die einen wenigstens neugierig machen können. Ich selbst war mal im Jahre 1968 (mit Roland) auf Tramptour in England und Schottland, bin also weit davon entfernt das Land zu kennen. Andererseits beherrscht man einigermaßen die Sprache, sollte man nicht vornehmlich die Länder bereisen, wo man sich verständlich machen und mit den Leuten reden kann?

Wenn man das mit dem Rad besorgen will, ist, was England betrifft, die "End to End"-Tour die ultimative Unternehmung, die längste auf der Insel mögliche Tour in eine Richtung. Heidi will natürlich mitfahren. Ich habe einige Arbeit damit, mit Regen, Gegenwinden, Kälte Bergen und anderen Unannehmlichkeiten zu drohen, bis sie kalte Füße bekommt. Eigentlicher Grund für eine derartige Alleinfahrt aber ist: von Zeit zu Zeit (so etwa alle fünf Jahre) brauche ich das mal: die Unabhängigkeit und die ganz an sich selbst ausgerichtete körperliche Beanspruchung. Und es gibt grünes Licht!!!

Nun gilt es, sich zu überlegen, welche Richtung man wählt. Da gibt es bekanntlich zwei Möglichkeiten. Vorteile bietet eigentlich nur die Tour von Süd nach Nord:

Günstigere Winde (hoffentlich),
man fährt mit der Sonne im Rücken,
die Landschaft wird mit der Fahrt beeindruckender,
die Abfolge ist damit: Cornwall, Exmoor, Wales, Lake Distrikt, Schottland.

Für diese "ultimative Tour" über mehr als 1500 km muß man zeitlich mit drei Wochen rechnen. Mindestens zwei für die Tour selbst und eine Woche Reserve für Hin- und Rückfahrt. Glücklicherweise entdecke ich im Internet eine Möglichkeit, mit einem Reisebus direkt von Hannover nach London + Fahrradtransport zu gelangen. Nach einigem Hin und Her gelingt eine Buchung per E-mail, das Ticket wird bei der Abfahrt bereitgehalten (Im Reisebüro bin ich übrigens glatt an der Fahrradmitnahme gescheitert).

Hinfahrt

Damit gestaltet sich die vorgesehene Hinfahrt folgendermaßen:

Abfahrt Donnerstag, 10.6. 23.15 Uhr in Hannover ZOB mit dem Bus,
Ankunft 11.6. London Victoria ca. 12.30 Uhr, Fahrpreis DM 121 + DM 50.- Fahrradtransport,
Abfahrt London Paddington 14.35 Uhr mit der Bahn,
Ankunft Penzance 20.15.

Das sieht nicht schlecht aus! Und irgendwo im Eurotunnel wird man dann durch die Westeuropäischen Sommerzeit eine Stunde Zeit geschenkt bekommen.

Und eine Vorgeschichte darf nicht unerwähnt bleiben, die sich am Morgen vor der Abfahrt auf der Fahrt zur Arbeit ereignet hat. In der Höhe von Schloß Richmond verspüre ich plötzlich einen kleinen Schlag auf dem Kopf, vielleicht ein Blatt oder kleiner Ast? Der Kontrollgriff erweist sich aber nicht als sonderlich appetitlich: es handelt sich um schlichte Vogelscheiße. Was das nun bedeuten wird? Man sagt wohl, es bringt Glück, und so beruhigt es ein wenig. Es ist jedenfalls keineswegs so, daß ich ohne Lampenfieber aufbreche, mir geht ganz schön die Muffe, wie man so sagt. Von der gesunden Wiederkehr trennt einen ja doch noch eine gewaltige Strecke.

So breche ich am Donnerstag Abend einigermaßen aufgeregt auf zum Braunschweiger Bahnhof, die Fahrt nach Hannover ist ja kein Problem. Dort muß ich nun am ZOB eine Stunde lang auf den Bus warten, der aus Berlin kommen soll. Das zieht sich, und die Hoffnung, daß alles gelingt, schwindet mit der Warterei. Zum festgesetzten Zeitpunkt ist von einem Bus weit und breit nichts zu sehen. Doch da sich mittlerweile eine recht "multikulturelle" Gesellschaft eingefunden hat, besteht ein wenig Hoffnung, daß die auch alle nach London wollen. Ein Rucksackreisender gießt eine hochprozentige Flüssigkeit vor sich auf dem Boden aus und veranstaltet ein kleines Feuerwerk. Anschließend entsorgt er mit glasigen Augen die nunmehr leere Schnapsflasche. Bald erfährt man auch, wo er hin will: nach "Adam". So sagt man wohl unter Weltenbummlern zu Amsterdam.

Mit einer halben Stunde Verspätung biegt er um die Ecke, der Bus mit der Aufschrift Gulliver's Reisen, und allen fällt ein Stein vom Herzen. Mir wird dann vom Fahrer offenbart, daß die Fahrradmitnahme nicht angemeldet sei, und mir rutscht das Herz - trotz ohne Stein - in die Hose. Nun tut der Vogelschiß vom Morgen zum erstenmal seine Wirkung, denn es wird sich sofort liebevoll meiner und des Fahrrads angenommen, letzteres wird in einem leeren Gepäckkasten verstaut, ersterer darf sich eine Liege im Sleeper - so nennt man das unter Weltenbummlern - aussuchen. Der Kollege nach Adam zieht einen normalen Sitz vor, er sei nämlich schon mal in Indien mit einem Sleeper gefahren und seekrank geworden.

Schließlich kommt noch die Besatzung eines anderen Busses hinzu, der aus Hamburg angereist ist. Eine dralle junge Dame bettet sich auf den freien Platz neben mich auf die Liege, es gibt sicher Schlimmeres. Gegen Mitternacht startet endlich der Bus und man darf sich zurücklegen und kommender Dinge harren. Die dralle junge Dame wendet mir alsbald ihre Rückseite zu, und so döst man gemeinsam über die holländische Grenze und reibt sich schließlich gegen 5 Uhr morgens in Amsterdam die Augen, wo ein Teil der Fahrgäste - so auch meine dralle junge Dame - aussteigt. Wenn man Luft schnappen will, kann man fröstelnd Amsterdam im Regen und in der Morgendämmerung erleben, aber das gehört sicher nicht zu den Höhepunkten der Reise.

Ich kann mich nun auf der Doppelliege räkeln und die wie ein Film vorbeiziehende Landschaft Hollands und Belgiens betrachten. Das bietet sich alles ziemlich grau, auffällig sind große Wohnbezirke mit Hochhäusern, die direkt an der Autobahn wohl auch nicht gerade ein beschauliches Wohnen gestatten. Als einmal in der Ferne etwas silbrig schimmerndes aufscheint, handelt es sich um das berühmte Atomium und wir erreichen nun Brüssel. Dort werden wir Fahrgäste nach London in einen anderen Bus (Anglia Lines) umgeladen. Wieder kümmert sich der Fahrer sofort um mein Bike, das ist man von der Deutschen Bahn für gewöhnlich nicht so gewöhnt. Vielleicht sollte man öfter mit dem Bus fahren. Ein Problem gibt es aber noch und der Fahrer verkündet: "I got 10 persons but only 7 tickets". Das muß nun auch erst einmal bereinigt werden. Endlich geht es weiter und man kann sich die Straßen in Brüssel anschauen. Da gibt es Häuse r schmal wie Handtücher mit schmiedeeisernen Balkongittern, aber auch pompöse Neubauten, die wohl für Europas Wohl errichtet wurden. Ein graues Ungetüm von Kathedrale, die heißt Sacre Coeur bzw. Heiligen Haart.

Auf der Autobahn gibt es dann wenig zu sehen, außerdem regnet es in Strömen. Interessant wird es nun aber bei der Anfahrt zum Eurotunnel in der Gegend von Calais. Da hat man ein riesiges Gelände für Freizeiteinrichtungen, Restaurants usw. eingerichtet, wir werden vor dem Duty Free Shop ausgeladen. Mit dem Fahrer wechsele ich ein paar Worte, daß man zum Radfahren bei dem Wetter wohl Handschuhe brauchen würde und das Wetter in London similar sei. An der Grenzkontrolle via England gibt es dann noch ein paar Schwierigkeiten mit einem mitreisenden tibetanischen Mönch, einer Spezies, die hier wohl nicht jeden Tag vorbei kommt. Zwei englische Damen, die aussehen wie Mitglieder der Kelly Family kümmern sich hilfreich um die Angelegenheit.

Der Bus wird schließlich in den Transportshuttle auf die Schienen verladen und dann kann man das große Erlebnis der Tunneldurchfahrt genießen. Zu berichten ist: es ist dunkel darin, und wenn man halb durch ist, erfolgt eine Lautsprecherdurchsage und die Lichter flackern. Nach 35 min Fahrt erreicht man englischen Boden und hat nun hoffentlich die Uhr um eine Stunde zurück gestellt.

Jetzt hockt man natürlich im Hohlkreuz auf seinem Sitz und erkennt alles, was vorbei huscht als typisch englisch. Bald aber schon rutsche ich ungeduldig auf meinem Sitz herum, indem ich ausrechnen kann, daß es in London mit dem Erreichen des Zuges nach Penzance knapp zu werden droht. Da auf der weiteren Tour ja wohl noch allerhand typisch Englisches auf mich warten wird, konzentriere ich mich eher auf die Ampelschaltungen und die Verkehrsdichte. Nun - wir sind endlich in London, ein Fahrgast darf vorzeitig aussteigen, mit "God bless you" wird der Fahrer gesegnet. Doch es dauert noch eine Weile bis wir Victoria Station mit einer Stunde Verspätung erreichen.

Nun gilt es, keine Zeit zu verlieren. Der Fahrer beglückt mich mit der Information, daß bis Paddington Station ganz London zu durchqueren sei. Also auf in den brodelnden Linksverkehr. Mit ein bißchen Glück finde ich den Hyde Park, da muß man an einem See (Long Water und Serpentine) entlang, am anderen Ende wieder raus, die Bayswater Road kreuzen, eine Passantin nach dem Weg fragen und zur Antwort bekommen: "I'm completely lost myself". Trotzdem finde ich Paddington Station schweißgebadet, Ticket lösen, Bahnsteig suchen, Rad verladen, Gepäck verstauen, niedersetzen, verschnaufen. Ich sitze im Zug nach Penzance, der mich an das Ende von Cornwall bringen wird!

Die Fahrt beschert nun weiteres typisch Englische, ich beschränke mich auf die Ansicht eines Fuchses, der mit einem erbeuteten Kaninchen im Maul auf einer Wiese verweilt. Hat man sowas schon gesehen? Landschaftlich ist die Fahrt besonders reizvoll, wenn es an der Küste entlang geht. Das beginnt in der Gegend von Exeter, bei Dawlish gibt es eine bemerkenswerte rotfarbene Steilküste, wo der Zug zwischen Steilabbruch und der See dahin fährt. In Plymouth gibt es die riesige Tamar Bridge, Baujahr 1961. Ferner bietet Plymouth von der Bahn aus an einer bestimmten Stelle eine bemerkenswerte Perspektive, wo sich die Häuser entlang paralleler Straßen wie Streichholzschachteln den Berg hinauf ziehen. Leider läßt sich das auf die Schnelle nicht fotografieren.

Inzwischen ist es im Abteil etwas lebhafter geworden, indem eine fröhliche Truppe sich durch Alkoholika in Stimmung bringt. Einer hat ein regelrechtes Fäßchen dabei, aus dem fleißig ein dunkles Bier gezapft wird. Da ist es nicht mehr so einfach, sich auf die Landschaft zu konzentrieren. Irgendwann verziehe ich mich unauffällig in das Nachbarabteil.

Auf dem letzten Stück vor Penzance erblickt man nun auch den berühmten St. Michaels Mount, sein gleichnamiges Gegenstück in der Bretagne ist allerdings noch berühmter. Leider kann ich wieder kein Foto anbieten, aber dafür gibt es Reiseführer usw.

Nach insgesamt 24 Stunden von zu Hause erreiche ich schließlich Penzance. Nun muß erst einmal ein Quartier gefunden werden, es ist Freitag, und da ist das anscheinend etwas schwieriger. Ich werde drei bis vier mal weiter geschickt, bis eine freundliche Dame im Union Hotel, Chapel Street die erlösenden Worte spricht: "You are welcome". Vom Zimmer kann ich sogar gleich zu Hause anrufen und glücklich verkünden, daß ich tatsächlich da bin, wo ich hinwollte, und das scheint mir wie am Ende der Welt.

Zum Essen findet sich ein Chinesisches Restaurant, wo es im Gegensatz zu anderen Lokalitäten am Freitag abend ruhig zugeht. Auch auf den Straßen ist einiges los, wo angeheiterte Jugendliche in Scharen herum schwirren und sich austollen, um es mal harmlos auszudrücken.

1. Tag, Sonnabend, Penzance - Land's End - Newquay,
8.30-18.30, 115 km trp, 14.0 km/h avg., 53 km/h max, 115 km total

Das Frühstück wird in einem vornehmen Saal eingenommen. Höhepunkt der Einrichtung ist eine Nachbildung der Totenmaske von Lord Nelson, auf dessen Spuren man schon im ganzen Haus traf, vielleicht hat der hier auch mal nach einer anstrengenden Anreise übernachtet. Mit einem älteren Ehepaar komme ich noch ins Gespräch, die wollen die nächsten drei Wochen auf den Scilly Islands verbringen und gedenken alles andere zu tun als sich dort zu langweilen. Unsereins muß erst mal auf der Landkarte nachsehen, wo diese Inseln überhaupt sind (30 km südwestlich von Land's End). Bemerkenswert auch das erste englische Vollfrühstück: Spiegelei, gebratener Speck und Würstchen, Bohnen und Tomaten. Das hält bis in den frühen Nachmittag vor.

Nun aber ist der denkwürdige Moment gekommen, der Start einer ungewissen Tour. Ob sie gelingen wird, hängt von vielen Faktoren ab wie Wetter, Wind, Pannen, Gesundheit usw. Natürlich ist die Motivation hoch gesteckt, was mich dennoch nicht davon bewahrt, schon gleich zu Anfang auf der B3315 die steile Steigung hinauf auf die Hochfläche das Rad zu schieben.

Einschub: Bei der Routenbeschreibung werde ich gelegentlich die Straßenbezeichnungen nennen, falls jemand die Strecke auf der Karte verfolgen will. Sowas soll es geben.

Beim Bergaufschieben kann man schon mal die üppige Vegetation bewundern, die aus allen Mauerritzen wuchert. Das liegt an dem vom Golfstrom bestimmten feucht milden Klima hier. Längs der Landstraße finden sich auch sogleich die berühmten englischen Hecken, hier sind es Steinwälle, die mit Gesträuch überwachsen sind. Und überall blüht der Fingerhut.

Im Reiseführer "England per Rad" ist zu lesen, daß man nun zur Ortschaft Lamorna abbiegen sollte, um zwei Menhire und einen Steinring a la Stonehenge (nur ein bißchen kleiner) zu besichtigen. Diesem Ratschlag folgend verschlägt es einen hinunter an die Küste an einen verwunschenen Ort: Lamorna Cove. Ein Pfad führt etwas abenteuerlich durch die Klippen zu einem Leuchtfeuer, die Zeit kann ich mir leider nicht nehmen. Ein paar Wanderer sitzen beim Frühstück, die sind auf dem Küstenpfad unterwegs, der rund um die cornische Küste führt. Auf die Frage, wo sich denn die Menhire und Steinringe befänden wird ratlos geguckt und ein "local boy" herbeigerufen, der aber erst seine Arme voller Kartoffeln entladen muß. Er verweist auf "Merry Maiden" und das liege oben an der Straße. Und hier sei "The best place of Cornwall" was man sich leicht vorstellen kann, wenn man sich in Cornwall sonst nichts anschaut.

Damit fahre ich zwar unverrichteter Dinge wieder zurück, habe aber schon mal ein lauschiges Plätzchen kennen gelernt. Oben ist dann auch ein Hinweisschild auf Merry Maiden und irgendwo guckt ein senkrecht aufgebauter Stein über eine Hecke und dann bin ich wohl auch schon daran vorbei gefahren. Die Straße macht einem kurz vor Erreichen von Land's End die Freude, mit einer 17 % Gefällstrecke aufzuwarten, um gleich danach ähnlich steil wieder hinauf zu führen. Danach biegt man bald auf die A30 und rollt hinunter nach Land's End. Hier hat man dankenswerterweise ein paar Vergnügungseinrichtungen geschaffen, damit der trostlose Blick hinüber nach Amerika keine Depressionen aufkommen läßt. Es gibt aber auch ein paar hübsche Klippen und einen Photographen, bei dem man den Besuch allhier dokumentieren lassen kann. Ich widme mich meinem letzten Wurstbrot und dann geht es los, am 12.6.11.00 Uhr: Start nach John O' Groats, ca. 800 Meilen von hier auf der kürzesten Verbindung. Auf der werde ich aber nicht fahren.

Nach wenigen Kilometern kann man auf die B3306 mit so gut wie keinem Verkehr abbiegen. Man fährt nun durch eine Landschaft an der cornischen Nordwestküste, die sich in den vergangenen Jahrhunderten wohl wenig verändert hat. Einmal mache ich Rast an einem Friedhof, dessen dahin gesunkene Grabsteine einen denken lassen, sie stammen aus uralten Zeiten. Die Jahreszahlen auf den Grabmalen sind aber fast alle aus diesem Jahrhundert.

Als nächstes fällt auf, daß hier früher der Bergbau umgegangenen ist, und zwar nach Zinn. Es gibt entsprechende Besichtigungsmöglichkeiten von alten Minen und Museen. Die bergbaulichen Anlagen reichen bis unter den Meeresspiegel. Ich bleibe lieber oben und habe eine nette Unterhaltung in einem Dorfladen. Die Leute strömen herbei, aber nicht wegen mir, sondern wegen einer Hochzeit. Im vorigen Dorf war übrigens auch schon eine Hochzeit. Ansonsten läßt es sich durch die grün hügelige Landschaft, durchzogen von aufgeschichteten Mauern, die See zur Linken, wunderschön dahin radeln.

Erst mit St. Ives erreicht man wieder einen größeren Ort mit Touristenbetrieb. Hier muß eine Flußmündung umfahren werden, bevor man auf der B3301 wieder auf einer Nebenstrecke ist. Nun heißt es darauf zu achten, wo geparkte Autos zu sehen sind. Dort befindet sich in der Regel ein sehenswerter Aussichtspunkt. Einige davon suche ich auf, wo man atemberaubende Ausblicke auf die Klippen hat. Dort brüten an sicherem Ort Möwen und Kormorane. An einer Stelle kann man sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen: an der englischen Küste auf dem Bauch zu liegen und 100 m senkrecht hinunter zu schauen. Das kribbelt aber nicht schlecht. Ich komponiere ein Statement: "This is the place where they kill their lovers in the movies". Rückwärts robbend stehe ich vorsichtig wieder auf.

Es folgen nun noch ein paar malerische Badeorte wie Portreath oder Perranporth, in die man munter hinab saust um dann bei der Weiterfahrt wieder auf die vorherige Höhe hinauf zu schieben. Für den Abschluß des heutigen Tages bietet sich zwingend Newquay an, ein größerer Badeort. Zunächst hat man von oben einen schönen Blick auf den sonnenüberfluteten Hafen und Strand. An einer schönen Aussichtsstelle befindet sich eine Bank, daneben ein Schild "Alkoholfreie Zone", damit unsere trinkfreudigen Zeitgenossen sich nicht diesen Ort für ihre Gelage aussuchen. Als ich mein Foto gemacht habe, offeriert mir ein Individuum, das auf der Bank sitzt, einen Film zu kaufen, billig. Ich habe aber genug dabei, woraufhin sich das Individuum abwendet und trotz alkoholfreier Zone die nächste Bierdose aufmacht und weiter mit sich selbst redet.

Ich suche nach einem Quartier und entscheide mich für Hotel St. Andrews, "You are welcome", da spitzt man schon die Ohren drauf. Zwei Damen sitzen an der Bar und es liegen ein paar Schmusebilder herum, was mich sogleich zu der Feststellung kommen läßt "May be I am wrong here". Zum Glück sage ich weiter nichts, denn es ist wirklich ein Mißverständnis meinerseits und bald danach sitze ich glücklich mit dem Gepäck in meinem Zimmer.

Im Ort ist der Teufel los, das soll am Wochenende und nach einem Sonnentag hier immer so sein. Es sind hauptsächlich Jugendliche, die außer Rand und Band sind. Die Mädchen laufen trotz der abendlichen Kühle leicht geschürzt herum, die sind wohl vor nichts bange. Nach längerem Suchen einer geeigneten Speisemöglichkeit verschlägt es mich in ein Indisches Restaurant, wo es auch immer noch laut genug ist. Aber das Essen ist ausgezeichnet.

2. Tag, Sonntag, Newquay - Wadebridge - Bude - Clovelly
9.30-19.00, 122 km trp, 14.8 km/h avg., 56.6 km/h max, 237 km total

In der Nacht kann man gar nicht einmal so gut schlafen, weil ein in regelmäßigen Abständen wiederkehrendes Möwengezeter für Abwechslung sorgt. Das Frühstück ist wegen des Sonntags erst auf 9.00 Uhr angesetzt, da kommt man nicht so früh weg. Die Strecke führt nun noch eine Weile an der Küste entlang. Das macht man so lange mit, bis man das ständige Queren von Tälern satt hat. Die Steilküste ist auch kaum zu sehen, dafür gibt es den "Coast Path", der den schwindelfreien Fußwanderern vorbehalten ist.

Nach einiger Zeit wende ich mich von der Küste ab und fahre auf Nebenstraßen durch verschwiegene Dörfer. Eine Frau auf einer Bank vor dem Post Office bietet ein schönes Fotomotiv. Man gerät schließlich nach Wadebridge, wo man auf den "Camel Trail" stößt. Das ist eine stillgelegte Bahnlinie, die nun auf der Strecke von Bodmin bis Padstow als Wander- und Radweg dient. Der Fluß Camel wird auf einer alten Brücke überquert, ein Hinweisschild verrät näheres.

Es geht weiter - wenn es denn interessiert auf der B3314 - wo es einige schöne Ausblicke auf die cornische Küste gibt. Der nächste interessante Ort ist Tintagel. Da gibt es z.B. ein Cafe Excalibur. Das hat seine Bewandnis darin, daß die ehemalige Burg auf Tintagel Head der Geburtsort von König Artus sein soll, so wird gemunkelt. Um dort hin zu gelangen, muß man sich auf einen Fußweg begeben, ich belasse es bei einem andächtigen Staunen aus der Ferne. Es gibt auch eine alte Post mit angeschlossenem Museum. Ich begnüge mich mit einem Foto von der sonnigen Rückseite.

Wir verlassen Tintagel in sausender Fahrt hinab in eine Waldschlucht, keine Angst schon gewinnen wir wieder an Höhe für den nächsten Küstenblick. Bei Boscastle dann wieder eine steile Abfahrt, daß die Bremsen kreischen. Wie ich mich gerade so in eine Serpentine fallen lasse, muß ich eine Vollbremsung machen. Da eröffnet sich der Blick in einen bezaubernden kleinen Hafen, der sich in die umgebenden grünen Berghänge schmiegt. Ein Bus kommt die Straße herunter geschlichen, der muß an der Serpentine dreimal zurücksetzen, damit er die Kurve kriegt.

Ich werde mit einer langen langen Steigung belohnt, jedes Haus oder Anwesen auf einer Anhöhe erfreut sich einer verkehrsgünstigen Lage, indem die Straße daran vorbei führt. Schließlich biegt man auf die A39 ein, wo stärkerer Verkehr herrscht, auf der man aber in rascher Fahrt einen Hafenort namens Bude erreicht. Dieser Ort ist mit seinen Häuserzeilen auf den Dünenrücken sehr hübsch anzusehen. Der Rest der heutigen Tagesetappe verläuft etwas monoton auf der A39, hat aber den Vorteil, daß die Steigungen leicht zu fahren sind, weil man ja bekanntlich bei Hauptstraßen die Geländeunebenheiten weitgehend ausbügelt. Quertäler werden überbrückt, Hügel zwischen großen Böschungen abgetragen. Außerdem habe ich Rückenwind, falls ich das zu erwähnen bisher vergessen habe.

Mein Ziel ist Clovelly. Über diesen Ort habe ich gelesen, daß er so in ein enges Tal hinein gebaut ist, daß dort kein motorisiertes Gefährt verkehren kann. Und so ist es, nicht einmal ein Fahrrad kann dort verkehren. Ich muß das Rad mitsamt Gepäck über holperige Kopfsteintreppen hinunter wuchten. Für derlei Transporte setzt man hier das Verkehrsmittel Esel ein, ich kriege aber keinen zu Gesicht. Fix und fertig erfrage ich am Ortseingang ein Quartier. Aber das liegt in Gestalt des "New Inn" bereits vor mir. Ich bekomme ein herrliches Zimmer im Haus gegenüber. Das Fahrrad muß bzw. darf ich mit aufs Zimmer nehmen.

Kleiner Einschub: Vielleicht liegt es daran, daß ich mit dem Rad zusammen das Zimmer bevölkere, daß mir beim abendlichen Telefongespräch mit meiner lieben Frau daheim der Satz gelingt: "WIR kommen gut voran". Mir fällt es später siedendheiß ein, wie man das WIR womöglich interpretieren könnte - und so ist es auch, meine liebe Frau macht sich in ihren einsamen Nächten allerhand Gedanken...

Inzwischen sitze ich in der Bar des New Inn und zerledere zu den Klängen von Queen: "The Show must go on..." ein zähes Rumpsteak mit Pommes. Dazu ein schwarzes Guinness, randvoll eingeschenkt. Nun aber ein Rundgang, obwohl von "rund" wenig die Rede sein kann. Man hoppelt hinunter zu dem idyllischen Fischerhafen, die Sonne geht gerade in der See unter und es ist mucksmäuschenstill. Die Häuser kleben an den Hängen wie Schwalbennester, dazwischen wuchern übermannshoch Dickichte des Knöterich. Die Hänge sind grün mit Ahorn und knorrigen Eichen bewaldet, falls nicht ein Teil der steilen Abhänge einem Erdrutsch zum Opfer gefallen ist. Bei der unvermeidlich romantischen Stimmung, die einen an diesem Ort befällt, kommt einem unwillkürlich das Wort "Shangrila" in den Sinn, viele derartige Kleinode gibt es wohl nicht auf der Welt.

So wird es fast schon dunkel, bis ich wieder meine Koje mit Fahrrad aufsuche mit dem Gefühl, glücklich zu sein.

3. Tag, Montag, Clovelly - Barnstaple - Exmoor - Bridgwater
9.00-18.45, 132 km trp, 15.4 km/h avg., 62.4 km/h max, 369 km total

Der Tag beginnt mit der Arbeit, die hier den Eseln vorbehalten ist, aber ich bin ja auch einer. Noch vor dem Frühstück bringe ich mein Fahrrad hinauf zum Parkplatz, wo sich der Anschluß an den Rest der Welt befindet. Dann das "Full English Breakfast" als Kraftstoff, und schließlich mit dem Gepäck, bestehend aus Rucksack, Lenkertasche und zwei Fahrradtaschen noch einmal hinauf zum Parkplatz gekeucht. Danach muß man noch eine ganze Weile schieben, bis man wieder auf der Höhe ist und schließlich in flotter Fahrt auf der A39 den Tag beginnen kann.

Es geht nach Bideford, wo man auf einer alten Brücke den Torridge River überquert. Auch hier hat man eine Eisenbahntrasse zu einer Wanderstrecke umfunktioniert, die nennt sich "Tarka Trail". Für den Radfahrer ist das Wunschfahren, verkehrsfrei und dicht am Ufer der Flußmündung. Gegenüber leuchten die Häuser des Ortes Appledore in der Sonne. In Barnstaple endet dieser Trail leider. Die Weiterfahrt wird mich nun über die Hochmoorlandschaft Exmoor führen. Zunächst befinde ich mich immer noch auf der A39, bis diese nach langen Steigungen sich wieder der Küste nähert, wo man besser auf der B3358 das Exmoor erreicht. Es ist nicht so sehr spektakulär hier oben, Hecken, Weiden und Schafe, aber auch schon mal Binsen und Wollgras. Irgendwo eine alte Kirche umfriedet von uralten Steinwällen, blühende Rhododendron Büsche. Eine schnelle Abfahrt führt in den Ort Exford, so schnell, daß ich auf dem Randstreifen einer Kurve lande - das wird sich nicht wiederholen.

In Exford kauft gerade ein Pferd in einem Laden ein, jedenfalls sieht es so aus, indem nur sein Hinterteil aus der Ladentür herausschaut. Bis ich meine Kamera heraus gekramt habe, sind Pferd und Beimensch aber leider schon mit dem Einkauf fertig.

Für die Techniker: In den Bergen von Exmoor muckt meine Schaltung, indem sich die bergfreudigen Gänge nicht schalten lassen. Das ist in Erwartung der Berge von Wales und Schottland - sofern man soweit kommen sollte - nicht so verheißend. Sonderbarerweise funktioniert nach einigem Herumgefummel an den Schaltzügen alles wieder richtig. Wir werden noch darauf zurückkommen, zum Glück erst sehr sehr viel später.

Ab Exford geht es nun meistens bergab. Ein waldreiches Tal hinunter erreicht man einen touristisch geprägten Ort namens Dunster. Dort gibt es ein Castle, eine Kathedrale und womöglich auch ein Kloster. Noch am hellerlichten Nachmittag erreiche ich wieder die Küste, meine "geliebte" A39, auf der ich mich im dichtesten Verkehr ostwärts voran arbeite - mit Rückenwind, versteht sich. Aber die Götter haben hier in Gestalt der Quantock Hills am Ende des Sporns von Cornwall und Devon noch eine Schikane in den Weg gestellt. Ein folgender Radfahrer ruft mir am Ende der unvermeidlichen Steigung zu: "Hard Walk up this hill!". Da hat er recht. Vielleicht habe ich "Really" zurück gerufen.

Von der Strecke bis Bridgwater ist noch zu erwähnen, daß es hier Ampeln gibt, die den Auf- oder Abtrieb von Rinderherden regeln, zu dieser Tageszeit ist man davon nicht betroffen. Nach langer Fahrt erreiche ich endlich Bridgwater, wo ich nach Befragen eines Passanten sogleich erfolgreich im "Blake Arms Hotel" unterkomme. Einziges Problem - wo das Fahrrad lassen, aber nach einigem Kratzen hinter dem Ohr weist UNS der Barkeeper in einen durchaus geeigneten Hinterhof ein.

Der Abend endet wieder auf angenehme Weise in einem indischen Restaurant. Der Rundgang in Bridgwater ist nicht so ergiebig. Eine langweilige Fußgängerzone und eine alte Kirche mit einer aufbetonierten Kirchturmspitze. Am späten Abend wird in einem Hinterhof von einer wohl Nicht-Lady noch ein Zeterkonzert gegeben, in dem jenes berühmte englische Wort, das mit F anfängt, besonders häufig vorkommt. Um 22.30 ist aber Ruhe, da ist man konsequent.

4. Tag, Dienstag, Bridgwater - Avonmouth - Monmouth
8.15-17.15, 130 km trp, 17.0 km/h avg., 49.9 km/h max, 499 km total

Wider Erwarten bekomme ich im Blake Arms Hotel von einem verschlafenen jungen Mann ein so reichhaltiges English Breakfast, daß mir Zweifel kommen, ob man das ein paar Wochen durchhält. Das Tagesziel heißt heute: die tief eingeschnittene Flußmündung des Severn zwischen Bristol und Newport hinter sich zu bringen. Ich verlasse Bridgwater auf der A38, die einen schnurstracks nach Norden bringt, vorbei an Burnham-on-Sea aber hinein nach Weston-Super-Mare. Und da ist zu lesen: Partnerstadt Hildesheim. Da kann ich ja gleich meiner Tochter Verena in Hildesheim eine Karte von hier schicken. Das läßt sich sogleich im Touristenbüro erledigen.

Ich versuche auch, mich nach günstigen Radrouten Richtung Norden zu erkundigen, aber da ist bei den zuständigen Damen Ratlosigkeit angesagt. Ansonsten ist Weston-Super-Mare wohl ein typischer Seebadeort mit einer langen Strandpromenade. Ausgangs des Ortes lande ich auf der Autobahnauffahrt zur M5, die ist allerdings absolut nicht für Radfahrer vorgesehen. Es gibt aber auch eine Nebenstraße, wo ich mich, als ich auf einer kleinen Brücke halt mache, zwei Schwänen gegenüber sehe. Wie schön ist das, wenn einen der Verkehr einmal nicht umtost. Man fährt nun einen kleinen Schlenker über Congresbury, und bald bietet sich wieder eine Nebenstrecke durch flaches Marschland an.

Bei der Einfahrt nach Clevedon lasse ich mich von einem Hinweisschild verleiten: "St. Andrews Church and Center". Das führt aber nicht in die Ortsmitte, sondern zu einem Komplex mit Kloster und Kirche oder so. Auch nicht schlecht, aber ich muß wieder zurück. Clevedon ist auch ein netter Badeort und verfügt über eine lange Seebrücke, die anscheinend nur kostspielig zu erhalten ist. Daher an den Besucher der Apell: "Sponsor a Plank!".

Einschub: Die Seebrücke von Clevedon ist das erste Opfer eines doch sehr ärgerlichen Malheurs, das sich erst nach der Rückkehr offenbart hat. Ein ganzer Film ist durch Lichteinfall verdorben worden, ob durch eigene oder Schuld des Fotolabors ist ungeklärt. Ich werde diesen Teil mit "verbaler"Fotografiererei absolvieren, damit man weiß, was man verpaßt hat. Oder auch nicht. Auf ein paar Bildern ist noch was zu erkennen, die habe ich dann mit reingenommen.

An den Laternenmasten in vornehmen Wohngegenden liest man später "This is a neighbourhood watch area". Da paßt wohl einer auf den anderen auf, falls die Einbrecher kommen. Man fährt nun zwischen zwei Bergkämmen dahin, durch den rechts liegenden hat man die Autobahn regelrecht hindurch gefräst.

Es wird langsam spannend, denn man nähert sich Avonmouth und der Straßenkarte nach gibt es dort nur eine Autobahnbrücke. Irgendwann wird man durch ein Hinweisschild für Fußgänger und Radfahrer erlöst, die auf verschlungenen Nebenwegen auf die Brücke gelotst werden. Tief unten liegt der verschlammte Fluß Avon. Stolz darf man nun die Brücke passieren. Mir kommt ein Ehepaar entgegen, die ich gleich mal nach dem weiteren Weg fragen kann. Das Ehepaar befährt den Radweg No. 48 der National Cycle Routes und sie haben einen Routenführer samt Karte dabei, da kriegt man ja ganz pralle Augen. Meine Idealvorstellung wäre nämlich, daß man die gesamte End-to-End-Tour aus Teilstücken solcher Cycle Routes zusammensetzt. Aber das ist Wunschdenken. Immerhin kann man auf der Route 48 bis zur Hochbrücke über den Severn gelangen.

Anfangs geht das gut und man fährt über Feldwege zwischen Industrieanlagen im Zickzack. Irgendwo muß aber mal ein Hinweisschild gefehlt haben, denn ich lande doch wieder auf der Hauptstraße. Die erste der Severnbrücken ist Autobahn. Es gibt auch einen Tunnel, der ist auch nur für den Autoverkehr. Die Severn Road Bridge ist dann die richtige, eine Hängebrücke mit hohen Masten, wie man auf dem nicht vorhandenen Foto sieht. Hochbrücken machen dem Radfahrer immer einen besonderen Spaß, eine tolle Aussicht, eine neue Etappe beginnt.

In diesem Falle ist nun die Angelegenheit Cornwall/Devon abgeschlossen. Wenn man sich weiter genau nach Norden hält, befährt man am besten die A466 im Tal des River Dye. Da hat man auch ein Bonbon parat: man kommt gerade eine Abfahrt herunter, da liegt vor einem die mächtige Ruine einer Abtei, und das ist die Tintern Abbey. Und im übrigen fährt es sich auch weiter ganz schön in diesem Tal, das auch in den Deutschen Mittelgebirgen liegen könnte. Als Übernachtungsort wartet heute eine besonders hübsche Stadt: Monmouth. Der Ort hat noch einen zweiten Namen: Trefynwy, und das ist gälisch. Man befindet sich hier in Wales, was ja bekanntlich ein eigener Nationalstaat ist oder sein will. Ich komme gerade noch zurecht, den kreglen Damen des Touristenbüros ein wenig Arbeit zu machen, das tun sie gerne. Sogleich wird mir das Nachtquartier telefonisch vermittelt: um die Ecke bei Mr. Adams. Der wartet dann schon, als ich anrolle. Hier g ibt es ein sehr gepflegtes Quartier, offiziell genannt: Steeples, 7 Church Street.

Zum Essen gucke ich mir auch gleich ein Pizza Restaurant an, aber erst muß ein Rundgang gemacht werden, denn die Abendsonne ist ideal zum Fotografieren (das Ergebnis ist nun leider akademisch...). Da gibt es zuerst die Monnow Bridge aus dem 13. Jahrhundert. Daneben sind auf einem Platz Gitterverschläge zu sehen für die Markttage. Ich besuche auch noch Geoffrey's Window in der Priory Street, benannt nach einem Mann der sonderbarerweise erst 300 Jahre später nach Errichten des Gebäudes gelebt hat. Ich schaue mir das kunstvoll gearbeitete Fenster gar nicht so genau an, ich habe ja das Foto - denkste. Im Kirchhof von St. Mary's Church bestaune ich eine riesige Blutbuche, dann treibt mich der Hunger in die Pizzeria. Ich bestelle eine Seafood Special, BIG.

Was dann herangetragen wird, ist ein riesiger Pappkarton. Darin verbirgt sich eine Pizza in Tortengröße mit Thunfisch und Krabben, schon der erste Blick macht klar, das schaffe ich nie. Die Jungs haben auch nicht damit gerechnet, daß ich die hier allein verzehren will, das heißt hier "Take away" und dann nimmt man sowas mit für die ganze Familie. Ich lasse mir Teller und Besteck bringen und mache mich ans Werk. Zuerst esse ich noch den Teig mit. Als ich merke, daß mir der Ranzen spannt - wie der Schwabe sagt - kratze ich wenigstens den Belag der verbleibenden Tortensegmente herunter und schlemme nur die leckeren Sachen weg. Am Ende sieht es gar nicht so schlecht aus, ein gehöriger Teil dieser Riesenportion hat doch seinen Weg gefunden. "He must be hungry, I thought" sagt dann einer der boys beim Bezahlen.

Etwas schwerfällig mache ich mich auf den Weg zurück in mein komfortables Quartier, um die Fortsetzung der Tour zu planen..

5. Tag, Mittwoch, Monmouth - Haye on Wye - Knighton - Bishop's Castle
8.30-18.15, 122 km trp, 14.8 km/h avg., 67.8 km/h max, 621 km total

Liegt es an der Pizza von gestern oder kann ich das englische Breakfast nicht mehr sehen, heute bestelle ich "without meat". Mr. Adams erzählt noch, daß die Nacht zuvor auch zwei End-to-End-Fahrer durchgekommen seien, mit stechendem Blick und schnellen Rädern. Ob ich die gesehen hätte. Leider nicht, sicher habe ich gerade wieder ein Foto geschossen, als die vorbei gerauscht sind. Die sind dann gleich schnurstracks nach Hereford weiter gefahren, die übliche Route.

Nach langem Studium der Karte habe ich mir eine vielversprechende Strecke durch ein Hochtal ausgesucht. Schon die wenig befahrene B4347 und die umgebende Landschaft versetzen einen in Hochstimmung. Zwischen Hecken geht es durch eine parkähnliche Landschaft bestehend aus Weiden und einzeln stehenden uralten Eichen. Überall (wie in ganz Britannien) grasen de Schafe und man hat immer entsprechende akkustische Unterhaltung um sich rum. Oft antwortet man sogar auf ein Blöken, das sei dem Alleinfahrer in seiner Einsamkeit verziehen. An dieser Stelle versichere ich aber einmal stellvertretend für die gesamte Tour: ich habe nicht ein einziges Mal Langeweile gehabt!

Nach einigem Auf und Ab muß ich wieder ein Stück Hauptstraße auf der A465 fahren, bis ich in die Nebenstraße ohne Bezeichnung in Richtung des ausgesuchten Hochtals einbiegen kann. Auf der A465 passiert nun etwas trauriges: nachdem mir ein Auto mit hoher Geschwindigkeit entgegen gekommen ist, fällt ein Rotkehlchen senkrecht vom Himmel vor mir auf die Straße. Ich denke an die Jungen, die vielleicht hungrig im Nest sitzen und nun umkommen werden.

Die trüben Gedanken vergehen bald, als ich mich nahezu autofrei das Tal hinauf zu arbeiten beginne. Es führt - für die, die eine gute Karte von Wales haben, von Pandy (sucht das mal) nach Hay on Wye. Mangels gelungener Fotos zähle ich auf, was mir so vor die Linse kommt:

Eine alte Kirche und ein Friedhof mit Grabsteinen, die älter aussehen als sie sind.

Kahle Bergrücken, weiß gepunktet mit den grasenden Schafen.

Eine betagte Eiche mit einem Stamm wie ein Korkenzieher.

Eine Burgruine mit Wallanlage (Longtown).

Ein in der Sonne dösender alter Mann vor einer Reihe Häusergiebel im Hintergrund (er grüßt freundlich, als er vom Klicken des Fotoapparates erwacht).

Ein Rudel Schafe, das in einem Koben zusammen getrieben worden ist.

Und schließlich die Paßhöhe mit meinem Rad im Vordergrund, die grünen Hänge des Wye-Tales im Hintergrund.

Bevor diese Paßhöhe erreicht ist, habe ich es noch mit einem Mutterschaf samt Lamm zu tun, die irgendwo ausgebüxt sind und nun auf der Straße vorne weg laufen, geradezu als Schrittmacher. Als ein Motorradfahrer entgegen kommt, flüchten sie in einen Seitenweg. Ich stürze mich nun hinab in das Wye Tal, leider geht es so steil und unübersichtlich hinunter, daß die Bremsen reichlich zu tun haben. Quietschen tun sie nun nicht mehr, das ist ihnen wohl vergangen. In der Mittagssonne rolle ich in Hay-on-Wye ein. Ein hübsches Städtchen, gespickt mit Antiquitäten- und Bücherläden. Für die Weiterfahrt kann ich auch die geeignete Straßenkarte erstehen: "Northern England, Sheet 5, Travelmaster Series of Great Britain, 1:250 000 Scale".

Es gilt nun eine Nebenstraße zu finden, die B4350. Auf der Karte ist an deren Ende ein geheimnisvoller Querstrich mit dem Wort "Toll" eingezeichnet. Als ich dort eintreffe, gerate ich schon wieder aus dem Häuschen. Es handelt sich um die uralte Whitney on Wye Toll Bridge aus dem Jahr 1775, 5 Pence muß ich auch löhnen. Auch wenn es Euch Leser nervt, hier tut es mir besonders leid, daß ich kein Foto vorweisen kann, aber man kann ja mal im Internet suchen.

Nun geht es wieder auf Strecke, zunächst auf der A438, von der man dann nördlich abbiegt auf die A411 bis Kington. Dort ist alles beflaggt, man bezieht das ja dann gleich auf sich selbst. Auch wird um den Erhalt eines Krankenhauses gekämpft ("Keep the Hospital"), wie man den Plakaten entnehmen kann. Der nächste größere Ort heißt ähnlich: Knighton. Nun frage keiner, wie diese Strecke durch die Walliser Quertäler verläuft, man überquert einen Bergrücken nach dem anderen, um zwischendurch jedesmal alles wieder an Höhe zu verlieren. Ich gratuliere mir, daß ich allein unterwegs bin, jeder Mitfahrer - besonders meine liebe Frau - hätte mich gesteinigt. Abends habe ich Bilanz gemacht: etwa 5 mal mußte man runter und wieder rauf, die Leistung an Höhenmetern steht in der Summe einer Alpenetappe in nichts nach (> 2000 m).

Einigermaßen fertig erreiche ich den Ort, den ich mir wegen seines schönen Namens (nicht nur) für das Nachtquartier ausgesucht habe: Bishop's Castle. Wie es nun weiter geht, das ist exemplarisch für das Glück des erschöpften Radfahrers. Ein hübscher Ort mit alten Häusern. Ein Informationsbüro, eigentlich schon geschlossen aber noch offen (nach Klingeln). Eine freundliche Frau, die mich gleich da behält und mir ein Zimmer anbietet. Es gäbe aber auch noch andere Möglichkeiten, da und dort oder ein paar km weiter? Ich stehe da mit weichen Knien, aufgesprungenen Lippen und Sonnenbrand auf den oberen Ohrkanten. Abladen, auf's Zimmer, Duschen und Beine lang - das ist es.

Und ist es zu glauben, in diesem Nest gibt es sogar ein indisches Restaurant. Nun muß ich noch meine Gastgeber würdigen, denn sie sind Inhaber eines uralten Hauses, da sind auch die Fußböden nicht so ganz horizontal, was man spätestens im Bett an einer gewissen rollfreudigen Lage feststellt. Das Fahrrad ist im Hinterhof untergebracht, angelehnt an ein "Horse for shaving wood". Dabei handelt es sich um eine Art Sitzbank, wo Holz für Restaurationsarbeiten von Hand bearbeitet wird. Die Herstellung von "Old Chairs" ist Spezialität des Hauses. Eine kleine Anekdote: als sich meine Gastgeberin die Personalien geben läßt, überlasse ich ihr den Ausweis, wobei sie als Teil meiner Heimatadresse "Augenfarbe Grau-Blau" in ihr Formular übernimmt.

Am Ende sitze ich in meinem Dachzimmer am Fenster über der Straße, erwarte die Dunkelheit und bin wieder einmal glücklich.

6. Tag, Donnerstag, Bishop's Castle - Wrexham - Chester - Liverpool - Crosby
8.30-19.00, 145 km trp, 16.2 km/h avg., 124.7 km/h max (kann nicht stimmen), 766 km total

Heute und für die weitere Tour wähle ich wieder das übliche Frühstück, "Without Sausage" allerdings.

Der heutige Tag ist für "Streckemachen" vorgesehen. Wenn man nicht gerade auf End-to-End-Tour wäre, könnte man sich besser noch näher mit der schönen aber auch anstrengenden Landschaft von Wales beschäftigen. Alles kann man nicht haben, so geht es auf der B4385 zunächst geruhsam nach Montgomery mit dem gälischen Namen Trefaldwyn. Dort ist gerade Markttag, aber zu viele Autos verstellen eine fotogene Szene (wäre ja auch sowieso egal gewesen - ihr wißt schon...). Die Sonne scheint auch nicht, ein paar Regentropfen ab und zu, als ich merke, daß ich mich leicht verfahren habe. Es ist aber nicht schwierig, wieder auf die richtige Strecke zurück zu finden, die Straßenkarte und die Beschilderung sind ausreichend.

Ich befinde mich schließlich auf der stark befahrenen A383, wieder Rückenwind - da muß man durchziehen. Nächstes Ziel ist Ostwestry, eine hübsche Einkaufsstadt, und schon geht es weiter Richtung Wrexham. Der Verkehr wird stärker, die Straße immer ähnlicher einer Autobahn. Vierspurig werden per Hochbrücke mehrere tief eingeschnittene Flußtäler überquert, das spart natürlich Zeit und Mühe. Der landschaftliche Genuß ist aber gleich Null, und als ein entgegenkommendes Polizeifahrzeug hupt - gilt das mir? - kommen einem Bedenken.

Am nächsten "Roundabout", sprich Kreisverkehr, kann man endlich wieder auf eine Nebenstraße ausweichen, diesmal bieten sich als Rastplatz die Halden eines stillgelegten Bergwerks an, bevor man auf ausgeschilderter Radroute Wrexham erreicht. Dort suche ich wieder das Informationsbüro auf, um in Erfahrung zu bringen, ob es eine fahrradgerechte Strecke nach Liverpool gibt und ob eine Fähre über die Bucht des Mersey existiert. Die erste Frage ruft wieder Ratlosigkeit hervor, die Fähre dagegen existiert. Das Zentrum von Wrexham ist derzeit eine einzige Baustelle, da geht es schnell weiter auf einer Nebenstrecke Richtung Chester.

Ich treffe auf einen Ort der heißt Cuckoo's Nest. Und plötzlich, ich kann gerade noch bremsen, zur Rechten ein vergoldetes Tor, eine kilometerlange schnurgerade Auffahrt dahinter, und ganz hinten erkennt man die Konturen eines Schlosses. Da mache ich es mir vor dem Tor erst einmal gemütlich. Ein Schluck aus der Flasche, ein paar Stücke Schokolade, ein Foto - kann man was erkennen? "Eaton Hall" nennt sich dieses Anwesen. Plötzlich erkenne ich eine winzige Überwachungskamera zwischen den Torstangen. Während ich so ins Grübeln gerate, öffnet sich plötzlich das Tor wie von Geisterhand. Und da rauscht schon ein Landrover auf der langen Auffahrt herbei, ich suche lieber das Weite, bin aber doch gespannt, ob vielleicht ein Mitglied der königlichen Familie oder so vorbei kommt. Nichts da, zwei livrierte Herren steigen aus inspizieren das Tor, äugen in meine Richtung, schließen das Tor wieder und rauschen mit ihrem Landrover zurück. Da s tehe ich nun und kann mir keinen Reim darauf machen. Vielleicht hat man mich als Terrorist taxiert? Die Internet-Suche nach Eaton Hall, Chester ergibt, dass es sich hierbei um den Sitz des Duke of Westminster handelt.

Es geht weiter in einen Ort namens Eccleston. Hier soll es laut Karte eine "Roman Road" geben, leider finde ich keine Hinweise darauf. Trotzdem gerate ich auf angenehme Weise in die Stadt Chester. Auch hier suche ich wieder das Touristenbüro auf mit der bekannten Frage und dem bekannten Ergebnis. Es folgt also eine Strecke, die man nur im Unterbewußtsein bewältigen sollte. Das ist die A41, vierspurig, eine Ausweichroute gibt es für den Ortsunkundigen nicht. Einzige Motivation: Ich will nach "John O' Groats", da muß man hier durch. Da ich ja - habe ich es schon erwähnt? - Rückenwind habe, sause ich diese fürchterliche Straße Richtung Birkenhead entlang und zähle die Meilen. Da ich dabei Zeit zum Denken habe, ein Einschub:

Einschub: Die Entfernungen werden in England bekanntlich in Meilen angegeben. Da uns Kontinentaleuropäern mehr die Kilometer liegen, rechnet man ständig um.

Es ist: 1 Meile = 1.6 km.

Das bedeutet, wenn man z.B. 13.5 Meilen präsentiert bekommt, das mit 1.6 zu multiplizieren, und wer kann das schon ohne Taschenrechner. Da habe ich einen Trick gefunden, irgendwann auf der langen Reise, während der es mir bekanntlich nie langweilig wurde. Und das geht so (am Beispiel 13.5 Meilen) nach der Formel 100% +50%+10%:

13.5 M =13.5 + 6.75 + 1.35 = 21.60 km

Gegenprobe für 10 Meilen:

10 M = 10 + 5 + 1 = 16 km -- stimmt!

Wer mich jetzt für wunderlich hält, hat recht, trotzdem hat die Rechnerei eine Menge Spaß gemacht. Gerade auf dieser Strecke bis Birkenhead zählt man ungeduldig die Meilen. Als die Hinweise auf die Fähre nach Liverpool auftauchen, hat man es geschafft. Und eine gewisse Melodie breitet sich im virtuellen Gehör aus:

Oh Ferry, cross the Mersey... (Gerry and the Pacemakers).

Just in time at Birkenhead - d.h. ich kann geradewegs auf die Fähre auffahren und bin nach 20 Minuten in Liverpool. Da wollte ich eigentlich über Nacht bleiben, aber irgendwie komme ich mit dieser Stadt nicht klar. Straßenschluchten, hektischer Verkehr, Beatle Museum (nichts gegen die Beatles!). Ich frage erst mal einen wohlgekleideten Gentleman nach einem Bed&Breakfast. Das versteht der gar nicht erst und verweist mich auf die einschlägigen Hotels, die sündhaft teuer sind. Ein anderer Passant, nun schon normaler gekleidet, gibt den Tip, raus in den Vorort namens Crosby zu fahren. Da das schon so Richtung Schottland liegt, mache ich mich auf den Weg und bin dann endlich, wieder über vierspurige Straßen, dort angelangt, nicht ohne sogleich ein China Restaurant im Augenwinkel zu registrieren.

Ein Hinweis auf ein geeignetes Quartier fällt einem aber hier nicht in den Schoß. Als ich mit dem Befragen von Passanten beginne, habe ich gleich ein kleines Grüppchen um mich versammelt. Eine Frau rennt aufgeregt zu ihrem Auto und holt eine Brieftasche voll mit Zetteln herbei. Während sie in ihren Zetteln blättert, vergißt sie mich anscheinend. Man weist mir den Weg zum Post Office, dort sei ein Aushang mit einer B&B Adresse. Also fahre ich zum Post Office.

Und da steht sie schon wieder, die Dame mit ihren Zetteln und blättert schon wieder erfolglos in ihrer Tasche herum. Dann ist sie aber so hilfreich und erklärt mir den Weg zu der B&B Adresse, macht sogar eine kleine Skizze und fährt dann mit dem Auto noch ein Stück vorweg. Obwohl ich mich köstlich amüsiert habe muß ich doch sagen, soviel Hilfsbereitschaft findet man selten.

Nun stehe ich also schließlich in einem Vorort von Liverpool vor der für mich momentan einzigen Möglichkeit, eine Übernachtung zu finden. Es handelt sich um ein gepflegtes Reihenhaus inmitten eines Wohnviertels. Ich klingle und rechne damit, daß niemand zu Hause ist. Dem ist nicht so. Eine nette Dame öffnet, und ich erfahre als erstes, daß ihr Name Liz sei. "My name is Martin" antworte ich, schon wissend, daß damit die Unterkunft gesichert ist. Als ich den Preis vernehme, muß ich allerdings kurz schlucken.

Nun muß ich mich noch ums Essen kümmern. Liz will mich überzeugen, daß man mit der Metro ganz einfach nach Liverpool gelangen kann. Danach steht mir nicht der Sinn, ich kutsche lieber mit dem Rad zu dem vorher ausgeguckten China Restaurant. Heute schmeckt es mir besonders gut, und auf die obligatorische Frage des (nicht chinesischen) Kellners nach dem Wohlbefinden will ich ihm eine Freude machen und sage "Pretty Good!". Das quittiert er mit einem säuerlichen Grinsen, denn in Deutsch klingt das so wie "Na ja, geht so". Man ist eben kein Native Speaker.

7. Tag, Freitag, Crosby - Preston - Lancaster - Windermere, Lake District
8.30-19.00, 140 km trp, 16.8 km/h avg., 51.4 km/h max, 906 km total

Beim Frühstück stellt sich zur Überraschung heraus, daß Liz über einen PC mit Internetanschluß verfügt. Da schicke ich gleich mal eine Mail an mich selbst und verrate Liz meine HomePage, damit sie weiß, mit wem sie es zu tun hat. Und daß ich über den Ausgang der Reise berichten werde, verspreche ich auch. Die offizielle Adresse der Unterkunft lautet übrigens:

The Blundellsands Bed&Breakfast Service
9 Elton Avenue Blundellsands Liverpool

Für die Weiterfahrt hat Liz eine Skizze angefertigt, nach der ich auf eine schöne Strecke abseits der Straßen fahren soll. Die Arbeit hätte sie sich sparen können, wenige Straßen weiter bin ich schon gänzlich durcheinander. Es kommt aber viel besser, weil ich mich zur Küste durchschlagen und dort auf einem schönen Weg durch die Dünen radeln kann. Allerdings wird der Weg nach und nach abenteuerlicher, und eine Spaziergängerin kann mir auch keine Auskunft geben, sie wohne erst seit ein paar Monaten hier. Deshalb schiebe ich lieber durch den Sand bis zu den nächsten Häusern und bin damit in dem Ort Hightown. Ein kleines Stück muß man doch wieder auf die Hauptstraße, aber vor Southport zweigt die "Touristic Route" seewärts ab, da bin ich richtig. Nicht lange darauf bekomme ich Begleitung. Es ist ein sportlicher Herr auf Tagesausfahrt, er heiß Peter, wie ich später erfahre. Wir unterhalten uns angeregt und

Peter wartet geduldig. Auf den Einwand, ich wolle nicht seine Zeit stehlen, antwortet er "Zeit ist mein Kapital". Er beneidet mich sehr um die Big Tour, "I will think of you" versichert er. Ich gebe ihm meine Internetadresse und hoffe, Peter wird eines Tages die Englischversion dieses Berichts lesen, in dem er sich selbst für ein paar Meilen auf der End-toEnd-Tour wieder findet.

An der A565 trennen sich unsere Wege und ich muß auf die Strecke. Das ist bis Preston kein Vergnügen, neben der Fahrbahn hat man aber teilweise einen Radweg eingerichtet. In Preston halte ich mich nicht lange auf, das ist mir zu geschäftig da. Bei einer Bank versuche ich vergeblich zu Geld zu kommen, mein Konto sei nicht gedeckt, verkündet der Automat. Später bei der "Royal Bank of Scotland" in einem Vorort klappt das dann besser mit der Scheckkarte.

Bald nach Preston wird es dann wieder richtig schön, indem man auf B-Routen (B6430/B5272) dem Verkehr entrinnen kann. Einmal taucht recht voraus ein kleines Schloß auf einem Hügel auf. Ich lehne das Rad an eine Hecke und versuche ein Foto, was aber wegen einer Hochspannungsleitung nichts wird. Eine Kirche mitten zwischen den Weiden zur Linken dagegen bietet ein besseres Motiv. Als ich mich der Auffahrt des zuvor gesehenen Schlosses nähere, spüre ich ein Schlingern im Vorderrad: ein Plattfuß. Dessen Reparatur kann ich nun genau auf dem gepflegten englischen Rasen von Crookhey Hall in Angriff nehmen. Ein Auto fährt vorbei, sicher mit seiner Lordschaft am Volant, man würdigt mich keines Blickes.

Schnell ist die Sache erledigt, um es vorweg zu nehmen, der einzige Platte der ganzen Tour, und hier bei Sonnenschein auf dem vornehmen Rasen taufe ich ihn einen "Platten der guten Art". Hat man nicht auch schon bei Regen auf vierspurigen Straßen das Vergügen gehabt? Nur daß diesmal bei der Weiterfahrt der Tacho nicht mehr geht. Na ja, ich habe das Vorderrad verkehrt herum eingebaut, das ist dank Schnellspannern an der nächsten Sitzbank mit einem Handgriff behoben - man ist ja kein Anfänger!

Den nächsten Höhepunkt bietet die Stadt Lancaster. Genauso stellt man sich eine quirlige "typisch englische" Stadt vor. Malerische Häuser mit farbenfrohen Fassaden, die beiden beschädigten Fotografien mögen einen Eindruck ahnen lassen. Im Zentrum ist allerhand los, da wird musiziert und getanzt, aber auch gebettelt. Einige Tänzer sind in ein Oktupus Kostüm geschlüpft, eine Schlagzeugtruppe gibt dazu den Takt. Aber es stehen auch Polizisten mit Videokameras herum, die dem Treiben aufmerksam doch sichtlich amüsiert folgen. Gerne würde man hier länger verweilen, doch ich möchte heute noch bis in den vielgerühmten Lake Distrikt kommen.

Das ist bei dem weiterhin günstigen Wind kein Problem. Es wird langsam bergiger, voraus sieht man schon die bis zu 1000 m hohen Gipfel der Cumbrian Mountains. Rechts oben auf einem Bergkamm hebt sich deutlich sichtbar die Gestalt eines Mannes ab, der dort in luftiger Höhe dahin wandelt. Der Einstieg zum Lake Distrikt ist in meinem Fall die Stadt Kendal. Es ist sehr verkehrsreich dort, es gibt aber auch ein paar verschwiegene und malerische Gäßchen. In einem Woolworth Laden kann ich zwei Filme zu annehmbaren Preisen kaufen, denn ich kann mir ausrechnen, daß mein Filmvorrat bis Schottland nicht reichen wird. Ein Film kostet in England normalerweise um die 3 Pfund = DM 15, da bekommt man in Deutschland mindestens drei Filme dafür. Die beiden Wooli-Wooli-Filme kosten nur zwei Pfund zusammen.

Um heute noch eines Sees ansichtig zu werden, bleibt mir noch genug Zeit, bis Windermere weiter zu fahren. Das ist anfangs noch ganz hübsch auf einer Nebenstraße, dann fährt man die letzten Kilometer bzw. Meilen doch wieder verkehrsumtost auf der Hauptstraße (A591). Nach einer rasanten Abfahrt erreiche ich mein Tagesziel. Um ein Quartier zu bekommen, muß ich mehrere male vergeblich fragen, bis ich an einem Haus namens "The Cottage" das erlösende Schild entdecke: "Single Room only". Ich klingele die Hausdame herbei: "My name is Barbara" und sage in Hinblick auf den Aushang: "You are the right for me and I am the right for you, I am looking for a single room". Na ja, Ihr wißt schon, Aufatmen ist angesagt.

Und - Windermere ist ja kein Nest, auch ein chinesisches Restaurant liegt um die Ecke. Nach dem Essen kaufe ich mir in einer Tankstelle eine Straßenkarte von Schottland: Michelin No. 401, Scale 1:400 000. Als ich diese Karte dann später in ihrer ganzen Größe auf dem Bett ausbreite, bekomme ich doch einige Bedenken: Schottland ist riesig.

8. Tag, Sonnabend: Windermere - Kirkstone Pass - Carlisle - Dumfries(Schottland)
8.30-19.00, 135 km trp, 16.0 km/h avg, 61.1 km/h max, 1041 km total

Bei Barabara im "The Cottage" bekomme ich ein ausgezeichnetes Frühstück, besonders die Grapefruites vom Buffet haben es mir angetan. Eine gute Grundlage ist wichtig, denn ich habe mir den Kirkstone Pass vorgenommen, der einen genau nach Norden führt. Man kann die Cumbrian Mountains durchaus mit den Alpen vergleichen, nur ist alles ein bißchen kleiner. So ist auch der Kirkstone Paß nur ca. 500 m hoch, aber auch da muß man erst mal hinauf kommen. Die Berghänge sind bald unbewaldet und mit grünen Matten überzogen, wo die Schafe ihr Revier haben. Einige von ihnen kennen die Lücken in den aufgeschichteten Mäuerchen und suchen sich den Weg in die Freiheit. Damit man sie wieder dem ordnungsgemäßen Besitzer zuordnen kann, sind sie durch bunte Farbpunkte auf ihrem Wollkleid gekennzeichnet. Leider habe ich ein wenig Pech mit dem Wetter, die Berge sind verhüllt, doch wenn ein paar Sonnenstrahlen durch die Nebel dringen, ergeben sich eigenartige Lichteffekte.

Das letzte Stück hinauf zur Paßhöhe fährt man in dichtem Nebel. Da oben ist ein uraltes Wirtshaus mit Tradition, wie man sich denken kann. Heute sind die Außenlaternen erleuchtet und man denkt es wäre Nacht. Bei der Abfahrt ist man schnell aus der Wolkendecke heraus und sieht vor sich ein grünes (was auch sonst) Tal, bis man in sausender Fahrt den See Ullswater erreicht. Hier ist wieder alles touristisch geprägt, Souvernirläden und so. Zum Glück ist heute morgen noch alles recht verschlafen. Ich biege ohnehin nördlich auf die A5091 ab und verlasse den Lake District damit. Schließlich lande ich auf einer ganz kleinen Nebenstraße entlang der nördlichen Ausläufer der Cumbrian Moutains. Hier ist man ganz allein mit der Landschaft, dem Stechginster und den Schafen. Es wird so langsam schwierig, die jeweiligen Landschaften zu beschreiben. Doch ich habe an einem "Cattlegrid" einen neuen Film eingelegt. Das bedeutet, lieber Leser , ab jetzt sind wir nicht mehr blind, wir haben wieder gelungene Fotos und sind nicht mehr auf nur verbale Schilderungen angewiesen.

Fototechnischer Einschub: Die Analyse sieht so aus: die letzten drei Bilder des ersten Films sind durch Lichteinfall verdorben. Der zweite Film ist praktisch ganz verdorben. Und die ersten 5 Bilder des dritten Films sind auch noch vom Lichteinfall befallen. Ab da keine weiteren Probleme. Womöglich war die Kamera nicht richtig verschlossen, aber ich kann mir keinen Reim darauf machen. Wenn die nun noch folgenden Aufnahmen (4 Filme =120 Aufnahmen) auch alle versaut gewesen wären, dann hätte mir der bisher glückbringende Vogelschiß das Gegenteil beschert. Darum nachträglich trotzdem noch einen Dank an den Gott der Fotomacher.

Ein vernebeltes Bild muß ich Euch aber noch zumuten. In einem Graben blüht eine Blume, die ich bisher noch nie gesehen habe. Wir werden sie auf unserer Tour noch einmal finden, aber da müßt Ihr noch lange lange warten. Die Blume hat gelbe Blütenblätter mit roten unregelmäßigen Flecken, in meinen Bestimmungsbüchern ist sie leider nicht zu finden. (Spätere Recherchen ergeben: es handelt sich um die Gauklerblume, Mimulus luteus, die auch der edlen Gesellschaft der Bachblüten angehört).

Nach dieser wunderschönen Strecke "allein mit den Schafen" geht es nun vorwiegend bergab Richtung Carlisle. So langsam beginnt es zu regnen. In einem kleineren Ort vor Carlisle parke ich das Rad in einer Toreinfahrt und gehe einkaufen. Da will man mir eine Rabattkarte für Stammkunden andrehen. Zurück in der Toreinfahrt kommt eine junge Dame herbei und fragt mich "Are you local?" Die will wohl irgend etwas erfragen. Ich frage mich, warum man mich hier so herzlich aufnimmt, da steht man in der Regenjacke herum und nur die nackten Beine gucken unten raus?

Es geht nicht anders, ich hocke unter meiner (eigentlich ausrangierten) Gore Tex Jacke in der sicheren Gewißheit, wasserdicht geschützt zu sein und passiere die große Stadt Carlisle. Hier ist das westliche Ende des Hadrian's Wall, wir werden später, viel später noch darauf zurückkommen. Ich habe nun auch beim Niederschreiben Zuordnungspobleme. Habe ich doch an einem Ort eine der letzten original erhaltenen Relikte der römischen Kultur angetroffen, eine Art Altar mit dem Namen Minerva Schrein. War das nun in Carlisle oder Lancaster? Alles rauszukriegen, wenn man sich der Mühe unterzieht, einen Reiseführer zu Rate zu ziehen.

"Out of Carlisle" passiert es das erste und letzte mal, ich fahre auf einer Nebenstrecke und ende im Nichts. Da beginnt wohl irgendein Naturreservat, ein Autofahrer taucht auch noch auf, der sieht dem derzeitigen Gatten der Prinzessin Caroline von Monaco täuschend ähnlich. Sein Kommentar: "From here you should swim". Aber was finde ich hier an diesem gottverlassenen Ort: ein verwittertes Schild mit einer rätselhaften Aufschrift. Und da meine Kamera wieder funktioniert hat, kann ich den Text dem Rest der Welt präsentieren:

Ere Metal Brig or Rail were thowt on.
Here Honest Will the Boatman rowt on.
Gentle and simple he did guide
to either Scotch or English side.
Wi' them on horseback he did ride
An' boat the footman.
An' none did ever dread the tide
wi' Will the Boatman.
Now tho' Will's work is done an' o'er
An' Will himself lies quiet,
yet lives his SPIRIT here - step in an' try it.
Ne'er Time nor Tide can half so pure supply it.

In dieser Sprache scheint man es zu lieben, gewisse Konsonanten zu unterschlagen.

Mein kleines Malheur bringt noch eine weitere charmante Begegnung mit sich. Zwei hübsche Radlerinnen, die - zwar auch etwas verregnet - sich auf einer Coast-to-Coast-Tour befinden. Ich muß natürlich prahlen, daß ich schon von Land's End her komme, inzwischen kann man ja auch so langsam stolz darauf sein. Wir haben eine netten kleinen Chat und mit "Nice to meet you" trennen wir uns wieder - leider.

Ich hätte die Girls mitnehmen sollen, denn wo lande ich nun: in Gretna Green, dem legendenumwobenen Heiratsparadies. Anscheinend funktioniert das immer noch, wie den Plakaten zu entnehmen ist, "Marriage Paradise" und so. Man überquert eine Brücke und ist in Schottland! Jedenfalls geografisch.

Ich muß ankündigen, es folgt nun die Schilderung einer Regenfahrt, die sich gewaschen hat. Zunächst denke ich noch unter meiner Gore Tex Behausung trocken zu sitzen, muß aber doch ein Bushäuschen aufsuchen, um mich wärmer einzukleiden. Da prasseln die Regenschauer auf das Dach, der Wind heult in den Bäumen. Der Wind weht von Süden - also von der linken Seite, das geht noch so. Warum ich nicht aufgebe und mir ein Quartier in der Stadt Annan suche, weiß ich bis heute nicht. Ich fahre einfach weiter, monoton, den größer werdenden Wasserlachen auf der Straße ausweichend. Ich fahre und fahre, hier beim Aufschreiben sind es wenige Zeilen, in der Wirklichkeit waren es zwei Stunden, bis ich die Stadt Dumfries erreiche. Dort finde ich das Ortszentrum zunächst nicht, eine farbige Passantin hilft mir weiter: "You will find an accomodation down the river". Jetzt merke ich erst, daß ich durchnäßt und unterkühlt bin , weil die Zähne aufeinander schlagen. Und am River leuchtet ein einziges Schild B&B. Hier gehe ich nicht mehr weg, denke ich, muß zuvor aber eine steile Treppe hinauf und finde eine offene Tür vor. Ein älteres Ehepaar kommt aus der Küche oder sonst wo her, beruhigt zwei heftig kläffende Yorkshire Pinscher und bittet mich zum Kaffee!!! "I am certainly out of shape now" bemühe ich mich und das wird verstanden. Ich darf das Gepäck abladen, mich umkleiden und dann mit aufgeweichten Händen die warme Kaffeetasse umklammern. Die armen Leutchen, sie mögen über 80 Jahre zählen, werden gar nicht wissen, was sie mir gutes tun.

Einschub: Meine Gore Tex Jacke mag wasserdicht sein, aber die Feuchtigkeit hat sich von unten her durch das Gewebe der Fahrradhose bis hinauf über die Gürtellinie in den Pullover hinauf gearbeitet. Ein anderer Teil ist durch die Ärmel und Kragenöffnung eingedrungen, so daß ich praktisch aufgeweicht bin. Nun hat ein professioneller Radfahrer wenigstens wasserdichte Gepäcktaschen, so daß trockene Kleidungsstücke verfügbar sind, mangels Pullover - der ja naß ist - ziehe ich heute für den Abendausgang schon mal meine Schlafanzugsachen unter.

Wer ist schon mal im Schlafanzug in Dumfries, Schottland zum Essen gegangen? Aber kariert ist hier ja angesagt, da bin ich im Trend. Natürlich gibt es in Dumfries ein chinesisches Restaurant, und mehr will man ja gar nicht. Und was erklingt dort aus dem Lautsprecher über mir: "It's a rainy night in Georgia..."

9. Tag, Sonntag: Dumfries - Kilmarnock - Irvine
9.30-19.00, 107 km trp, 13.3 km/h avg, 35.4 km/h max, 1148 km total

Ein paar Worte muß ich noch über meine Unterkunft verlieren. Es handelt sich um eine typisch britische (wehe man verwechselt englisch mit schottisch) Wohnungseinrichtung, eben old fashioned. Es stehen eine Menge Sachen herum, Uhren, Vasen, Obst- und Keksschalen, Döschen und Kissen. Elektrische Kamin-Attrappen sorgen für angenehme Temperierung. Ferner liegt ein Buch aus mit unzähligen Gedichten eines gewissen Robert Burns, der im 18. Jahrhundert in dieser Stadt gelebt hat. Wenn man genauer nachforscht, stellt sich heraus, daß es sich um Schottlands meistgeliebten Dichter handelt. Ferner erfahre ich, daß zur Zeit in Dumfries ein großes Fest gefeiert wird, das nennt sich "Good Neighbours". Davon habe ich gestern im Regen wenig mitbekommen.

Heute herrscht strahlender Sonnenschein, ich gehe voller Tatendrang vor dem Frühstück schon mal die Kette ölen. Da Sonntag ist, wird es mit dem Aufbruch heute etwas später, da kennt man nichts. Mein Tatendrang wird bald nach dem Start allerdings gedämpft als ich merke, was angesagt ist: Gegenwind! Die Strecke führt immer am River Nith entlang, parallel verläuft auch eine interessante Eisenbahnlinie. Heute habe ich reichlich Gelegenheit zum Meilenzählen, wo es so langsam und mühsam voran geht. Erste Abwechslung ein Ort namens Holywood. Mehr als dessen Namen ist allerdings nicht erwähnenswert.

Die Landschaft ist jedoch sehr schön, leicht gewellte Berge begleiten das Flußtal, die Gegend heißt hier Southern Uplands. Weiter talaufwärts wird der Fluß und sein Tal wilder, da sieht man auch schon mal Kanuten oder Schlauchbootfahrer auf den schäumenden Wassern. Das Wasser ist durch die gestrigen Regenfälle schokoladenbraun. Einmal sehe ich zwei schwerbeladen Radtourer vor mir, aber ehe ich sie erreiche biegen sie auf einen Rastplatz ab. Ich zockele lieber weiter, wobei die Windverhältnisse zwischen Enterkinfoot und New Cumnock am schwersten sind, weil man genau nach Westen fährt. Hier oben liegt das Quellgebiet des River Nith und man hat einen weiten Blick. Ganz weit vorne erheben sich mächtige blaue Berge. Lange später kann man sie identifizieren: es sind die Berge der Isle of Arran. Mit dem Ort Cumnock kommt wieder etwas Abwechslung auf, da gibt es hübsche Hausfassaden. Auf dem letzten Stück für heute Richtung Kilmarnock gerate ich wieder in die Fänge der Hauptstraße A76, der man nur entrinnen kann, wenn man Umwege und zahlreiche Anstiege in Kauf nimmt, was ich lieber lasse.

In Kilmarnock wollte ich eigentlich ein Quartier suchen. Aber der Ort gefällt mir gar nicht. Man hat für meinen Geschmack zu modern gebaut, eine sterile schnurgerade Fußgängerstraße mit einem riesigen Einkaufszentrum. Ein Mädchen mit lückenhaften Zähnen trollt herbei und ist schwer wieder los zu werden "I like your bike" sagt sie und streichelt über den pulver beschichteten Chrom-Molybdän Rahmen. Ich mache mich lieber auf die Socken, es wird sich zeigen, daß ich richtig daran getan habe.

Der nächste Ort ist Irvine und bis dorthin kann man wenigstens ein Stück auf einer Nebenstraße fahren. In Irvine habe ich wieder einige Probleme, ein Quartier zu finden. In den Pubs und Bars ist man munter mit dem beidhändigen Bierstemmen beschäftigt. Obwohl meistens Hotel an den Häusern steht, wird immer wieder beteuert, daß man keine Zimmer habe. Außerdem sind die Leute hier kaum zu verstehen, sie sprechen einen ziemlich harten Dialekt. Dann klappt es aber doch noch beim "Laurelbank Guest House, 3 Kilwinning Road". Mein China-Restaurant liegt nur ein paar Straßenblocks entfernt. Dafür verliere ich heute eine Pfundmünze in einem defekten Telefonautomaten. In meinem Zimmer läuft die Heizung, das ist mir und einigen Kleidungsstücken nach dem Regendesaster sehr willkommen.

10. Tag, Montag: Irvine - Ardrossan - Isle of Arran - Lochgilphead
8.15-18.45, 90 km trp, 13.7 km/h avg, 45.4 km/h max, 1238 km total

Zum Glück bringt mir der Chef am Morgen den Zeitplan der Fähre von Adrossan zur Insel Arran. Die fährt nämlich um 9.45 und es sind noch 13 km bis dorthin. Die nächste Fähre fährt erst wieder zwei Stunden später. Außerdem erklärt mir der Chef, wie ich auf einer Radroute am Ufer der Flußmündung fahren kann. Dort sind sogar Schilder der National Cycle Route bzw. Sustrans bzw. Coast-to-Coast (C2C) aufgestellt. Bald aber ereilt einen das übliche Schicksal: auf die 4-spurige Schnellstraße. Man hätte auch seewärts durch den Ort Ardrossan fahren können, aber ich folge lieber der Beschilderung zur Fähre um nichts zu riskieren. Ich komme dort gerade so eine knappe halbe Stunde vor Abfahrt an.

Ich freue mich so unbändig auf die Insel Arran - warum weiß ich gar nicht - daß ich in diesem Moment an keinem anderen Ort der Welt sein möchte. Fahrkarte lösen, schnell ein Foto vom Schiff der Caledonian MacBrayne (Hebridean and Clyde Ferries), dann an Bord, da gibt es sogar eine Bicycle Area mit Stricken zum festzurren der Räder. Das Schiff ist ziemlich gut ausgestattet mit Restaurants, Aussichts- und Sonnendecks. Nach dem Ablegen herrscht allerdings ein ziemlich starker Wind, so daß man sich bald in das Innere verzieht.

Ich vertiefe mich erst mal in den umfangreichen Fahrplan der zahlreichen Fährverbindungen zwischen den schottischen Inseln und Halbinseln, Sounds und Lochs. Da kann man eine richtige Planung darauf aufbauen, und ich habe noch etwas besonderes vor, darauf werde ich später zurückkommen. Nach über einer Stunde läuft das Schiff in Brodick auf Arran ein. Ich lasse meiner Phantasie freien Lauf: vor eineinhalb Stunden noch auf der Autobahn - und jetzt im Paradies? Es.  ist ein Paradies, das schönste, was ich bisher auf der Tour zu sehen bekommen habe. Ich will hier eine Schleife fahren, d.h. erst die Insel überqueren und dann an der Westküste hinauf nach Lochranza, von wo aus einen die Fähre wieder zurück aufs Festland bringt (?: England ist selbst eine Insel, Mainland sagt man hier).

Die Straße über die Insel ist ein kleiner Paß, und wenn man den hinauf schiebt, hat man die Muße, die Fülle an Vegetation und die atemberaubenden Ausblicke zu genießen. Das absolut Einmalige an dieser Insel ist, das die Klimazonen auf engstem Raum aufeinander folgen. An der Ostküste sind fast tropische Vegetationsverhältnisse anzutreffen, üppige Rhododendron-Dschungel und verfilzte knorrige Bäume.

Auf 200 m Höhe liegt schon die Baumgrenze und es folgen Flächen mit Heide- und Farnkraut. An den Berghängen grasen die Schafe. Wo das Wasser sich seinen Weg zwischen den Wiesenmatten gesucht hat, bilden sich schmale Schluchten, man mag sich vorstellen, wie ein Tal entsteht. Die ebenen Hochflächen sind moorig und üppig mit Wollgras bewachsen. Und blühender Fingerhut wohin man blickt. Soviel zur Beschreibung, zum Glück habe ich wieder Fotos. Als ich die Berghöhe überwunden habe und bergab durch die blühende Landschaft gleite, - ich muß mich jetzt als sentimental outen - bekomme ich eine Gänsehaut und Tränen in den Augen - kennt das jemand, dieses Gefühl?

An der Westküste kann ich - wieder nüchtern - ein wenig Vektorrechnung betreiben. Die Richtung der Straße hat nämlich eine Westkomponente, was einen unangenehmen Gegenwind zur Folge hat. Ab dem Ort Pirnmill schwenkt die Straße um wenige Grade und hat ab da eine Ostkomponente. Und siehe da, man hat den herrlichsten Rückenwind. Auf dieser Strecke hat man einen weiten Blick über den Killbrannan Sound hinüber zu den Bergen der langgestreckten, wie ein Finger geformten Halbinsel Kintyre. Dort gehen in grauen Schleiern Regenschauer nieder, an anderen Stellen scheint die Sonne, und das erzeugt interessante Lichteffekte.

Einer dieser grauen Schleier macht sich allerdings auch über die Insel Arran her. Man muß kurz die Regensachen raus holen, dann ist es schon wieder vorbei. Am Wegesrand entdecke ich die Reste eines Hauses, da sind noch große Kochkessel über Feuerstellen zu erkennen. Ich kann nicht sagen, wozu sie einmal gedient haben mögen.

Nun noch die Geschichte mit der Fähre zurück. Ich kenne ja die Abfahrtszeiten: 13.50 oder 15.05. Würde ich rasen, käme ich noch zur ersten Abfahrtszeit zurecht. Das lasse ich lieber bleiben, raste öfter und lasse die Landschaft auf mich wirken. Als ich lange vor 15 Uhr am Fähranleger eintreffe, legt die Fähre gerade an und fährt - für meine Begriffe - völlig fahrplanwidrig zu einer ganz falschen Zeit. Ein mitfahrender Radtourer meint dazu, das machten die sowieso, wie sie wollen. Ein erneuter Blick in den Fahrplan läßt mich fast erröten: es ist alles OK. Ich habe mir nur unsinnigerweise die Zeiten der Gegenrichtung eingeprägt.

Der erwähnte Tourenfahrer macht eine interessante Fahrt, er fährt nach Campbeltown auf Kintyre, von dort mit dem Schiff nach Nordirland und macht dort eine Küstentour. Da die Landschaft hier so zerrissen ist aber verkehrsmäßig geradezu netzartig erschlossen, kann man solche Unternehmungen sehr variabel gestalten - ich sagte es schon. Die Mutter meines Mitstreiters ist Deutsche und stammt aus Bückeburg - da bin ich mal zur Schule gegangen und habe mich damals über die vielen englischen Besatzer geärgert. Wir verlassen die Fähre in Claonaig, wo sich unsere Wege trennen. Ein paar gute Tips habe ich mit auf den Weg bekommen.

Zunächst geht es quer über die Halbinsel über moorige Hochebenen. Einmal sehe ich auf einer Wiese einen grauen Laufvogel mit einem langen Schnabel. (Nach dem Bestimmungsbuch handelt es sich um den Großen Brachvogel, Curlew). Im Hintergrund verblassen die Berge von Arran allmählich, von hier wirken sie wie die Buckel in einem Eierkarton, rein topologisch. Man fährt auf der anderen Seite dann am Loch Tarbert entlang, das ist gar nicht mal so reizvoll. Um so hübscher ist der Ort Tarbert am Ende der langgestreckten Meeresbucht. Ich setze mich auf eine Bank und schaue ein paar Radfahrern im Rennoutfit zu, wie sie ihre Beine ausschütteln. Dann begebe ich mich in eine Bäckerei, um mal etwas Kuchen zu kaufen. Was ich für Kuchen halte, ist irgendwas mit Käse. Was die Verkäuferin für Kuchen hält, sind für mich nur Plätzchen oder Kekse. Also nehme ich das irgendwas mit Käse, leider habe ich die Bezeichnung des irgendwas nicht verstanden und noch weniger behalten. Schmeckt aber prima!

Es geht weiter an dem breiten Loch Fyne entlang, hier sehe ich die ersten Lachsfarmen. Darauf kommen wir noch. Ansonsten sind hier viele Baustellen, man baut die Straße leider wohl zu einer Rennstrecke aus. Einmal überholt mich ein riesiger roter Bus mit deutschem Kennzeichen. RoHo = Rollendes Hotel steht darauf. Das sind diese Gefährte, wo die Mitreisenden in so einer Art Schubfach schlafen, auch als Training gegen Platzangst zu verstehen. Jedenfalls scheine ich mich in der richtigen Gegend aufzuhalten, denn wenn die schon hier lang fahren...

An einer Stelle an dieser Straße ist eine Schautafel über die Eigenarten des Waldes (Artilligan Forest), der sich von der Küste die Hänge hinauf zieht. Es soll sich um eine einzigartige von der Eiszeit überkommene Vegetation handeln. Wegen der reichlichen Niederschläge in diesen Breiten spricht man auch von einem nordeuropäischen Regenwald. Man wird sogar aufgefordert, mit Vorsicht den Wald zu betreten, aber da würde man nicht weit kommenAt .

Der nächste Ort heißt Ardnshaig, wo man vor eine Schranke vor einer Drehbrücke den Verkehr regelt. Hat da nicht vorhin einer was von einem Kanal gesagt? Es handelt sich um ein Industriedenkmal, und ich zitiere einmal, was auf der Schautafel zu lesen ist:

The canal was built nearly 200 years ago to encourage trade with the islands and avoid the hazardous route round the mull of Kintyre.

Mit 10 Schleusen hat man den Höhenunterschied landeinwärts überbrückt. Ich fahre noch etwas weiter bis Lochgilphead, wo es eigentlich nicht viel zu sehen gibt. Ich kann aber ohne lange rum zu suchen gleich im Argyll Hotel bleiben, wo ich auch zu Abend essen kann, diesmal ganz ordinär Fish and Chips bzw. vornehm ausgedrückt Fried Scramps.

Abends auf dem Zimmer habe ich Zeit und Platz für die große Karte. Ich arbeite jetzt meinen großen Plan aus, auf die Stunde genau. Ich will von Oban mit der Fähre auf die Äußeren Hebriden oder auch Western Islands auswandern, diese dann längs abfahren und mit der Fähre nach Ullapool zurückkehren. Eine kleine Mogelpackung ist auch mit dabei, man spart durch die Schiffsfahrten ein paar Kilometer. Da das Schiff von Oban erst am übernächsten Tag mittags fährt, ist quasi auch noch ein Ruhetag dazwischen, was auch nicht schaden kann.

11. Tag, Dienstag: Lochgilphead - Crinan - Oban - Conan/Ardgour
8.30-18.15, 128 km trp, 16.43 km/h avg, 51.0 km/h max, 1366 km total

Vom Start heute morgen bis Oban ist es nur eine Halbtagstour, da kann man es gemütlich angehen lassen. Zuerst sollt man sich genauer mit dieser Kanalanlage befassen. Dazu kann man geruhsam auf der B841 an dem Kanal entlang fahren, sich die Schleusentore und das bergumsäumte Loch Crinan anschauen. Danach wird man allerdings hereingelegt, indem man über einen Berg in den Ort Crinan gelotst wird, das gilt für die Autofahrer. Als Radfahrer könnte man am Kanal bleiben und dann am Schluß über eines der Schleusentore queren. So schlau war ich aber auch erst zu spät.

Der Ort Crinan ist wieder so ein Ort, wo der Shangrila-Orden vergeben werden darf. Absolute Ruhe, vom Möwengeschrei abgesehen. Zwei alte Dampfer liegen in der Hafenbucht, ein Leuchtfeuer, Fischereigeräte usw. Nur ungern verläßt man diesen Ort wieder.

Es geht zunächst flach dahin durch Marschland mit Binsenwiesen bis man auf die A816 stößt. Genau an dieser Stelle befinden sich bei Templewood ein paar Vorzeitrelikte in Form eines Steinringes sowie ein paar senkrechter Steinplatten. Auf einer Schautafel wird vorgeschlagen, für ein Weilchen sich den Gedanken hinzugeben und zu grübeln, wozu diese Heiligtümer einmal gedient haben mögen. Mehr wird nicht erklärt.

Wenig später hole ich drei lustige Gesellen ein. Die kommen aus Deutschland, da muß man immer aufpassen, daß man nicht so lange englisch miteinander spricht, das ist dann irgendwie peinlich. Diese drei sind von Frankfurt nach Glasgow geflogen und wollen nun auf die Insel Mull. Viel Radfahren würden sie ja nicht, lieber Biertrinken. Und heute wollen sie auch nur bis Oban, da sieht man sich ja dann noch - denkt man.

Gelegentlich schaue ich mir mal die Landschaft an. Die Berge sehen aus wie jene der Modelleisenbahnlandschaften, kahl und wie mit grünem Tuch überzogen. Am schönsten ist es jedesmal, wenn man von einem Berg herunter an eine Bucht kommt, hier Loch genannt, wie man wohl schon gemerkt haben wird. Damit ist gleichzeitig gesagt, daß es auf dieser Strecke recht bergig zugeht, was mich wieder an meine liebe Frau denken läßt und eine gemeinsame Schottlandtour fragwürdig macht. Wenn man an einem solchen schönen Aussichtspunkt verweilt, passiert meistens folgendes: ein Auto hält an, man stöhnt vor Wonne auf, dann springt einer raus und macht ein Foto, springt wieder rein und es geht weiter. Ich schlage dann meistens gerade Wasser ab.

Nun gut, man muß ja auch viel trinken. Ich habe immer eine 2 l Flasche Schweppes oder Limo dabei. Bei einer dieser Gelegenheiten entdecke ich zu meinen Füßen eine Menge Knabenkräuter, also wieder mal kein Urlaub ohne Orchideenbild. Auch mit dem Viehzeug links und rechts hat man seine Freude, die glotzen einem mit unterschiedlichem Intelligenzausdruck in den Augen nach.

Früh am Nachmittag bin ich in Oban, wo mir der Verkehr und die allgemeine Geschäftigkeit gar nicht schmeckt. Ich suche natürlich sofort das Touristenbüro auf, um meinen penibel ausgetüftelten Plan zu konsolidieren (Tickets, Quartiervorbestellung). Da muß man Zeit mitbringen, denn es wuselt hier, vor allen Schaltern stehen Warteschlangen. Und was soll ich einen lieben langen Tag in Oban anstellen? Und verpasse ich nicht in Schottland die schönsten Gegenden, wenn ich mich mit den wahrscheinlich kargen Äußeren Hebriden einlasse. Und könnte man nicht heute noch ganz schön ein wenig weiterfahren?

Mein penibel ausgebauter Plan fällt zusammen wie ein Kartenhaus, geradezu fluchtartig verlasse ich Oban. Hier treffen sich anscheinend sämtliche Schottlandreisenden, der andere Treffpunkt wird Inverness sein, das zum Glück nicht auf meiner Radroute liegt. Ab Oban wird die Strecke schnell, natürlich habe ich wieder meinen Rückenwind, zum anderen kann man zwei praktische Brücken benutzen die einem das Umfahren jener im Wege liegenden Lochs ersparen. Lange kämpfe ich mit dem Gedanken, bis Fort William zu Füßen des Ben Nevis durch zu fahren. Die Karte bietet aber eine viel bessere Variante, und die läßt sich praktizieren, wenn ich an der Fähre von Loch Linnhe eine Unterkunft finde. Die Fähre ist für Biker kostenfrei, das hat man gern. Auf der anderen Seite befindet man sich in dem District Ardgour und ich vertraue auf die Einrichtung "The Inn of Ardgour". Da muß ich erst einmal auf deren Computer vertraue n, denn der Checkin will nicht klappen und der Chef scheint mich darüber ganz vergessen zu haben.

Nachdem ich so 15 Minuten gewartet habe, werde ich ein bißchen ungeduldig und bekomme dann prompt meinen Zimmerschlüssel. Für die Räder würde gerade ein Schuppen gebaut, erfahre ich. "Das Radfahren in Schottland ist unglaublich schön, warum sind wir damals nur getrampt?" so habe ich auf die Ansichtskarte aus Oban an meinen Freund Roland geschrieben, mit dem ich vor 31 Jahren hier war. Damals sind wir allerdings gewandert, oben im Glenn Affric, das war auch nicht schlecht...

Das Abendessen findet in gepflegter Atmosphäre in der Bar statt. Ich wähle eine Lachsschnitte, man gönnt sich ja sonst nichts. Bei unserer damaligen Fahrt haben wir in dem Ort Glenelg beobachten können, wie man einen Schwarm Lachse umziengelt, herausfischt, tötet und sofort in Eis abtransportiert. Heute macht man das anders. Trotzdem ist der Lachs auch hier nicht gerade billig. Am Nebentisch sitzen ein paar Schweizer, die tafeln auch nicht schlecht. Auf die Frage "Do you like a pudding" heißt es "No, one more beer please". So ist es bei mir auch.

Sei noch die Aussicht geschildert, die ich aus meinem Zimmerfenster habe: direkt über das Loch Linnhe hinüber nach Fort Williams, dessen Lichter in der Nacht aufleuchten.

12. Tag, Mittwoch: Conan/Ardgour - Glenfinnan - Mallaig - Skye - Plockton
8.30-19.00, 131 km trp, 13.1 km/h avg, 50.7 km/h max, 1497 km total

Stellt Euch mal vor, ich hätte diesen Tag in Oban rumgehangen um dann erst gegen Mittag eine 7-stündige Schiffsreise anzutreten. Wißt Ihr, was ich verpaßt hätte? DIE Königsetappe. Die Königsetappe ist nicht die schwerste oder längste, sondern auf Radtouren immer die schönste der Tagesetappen. Man soll nicht mit Superlativen um sich schmeißen, immerhin habe ich schon einiges gesehen, aber so etwas noch nicht, und es muß schon dicke kommen, wenn das noch überboten werden soll. Hoffentlich habe ich Euch nun den Mund für diesen Tag wässerig gemacht.

Bei strahlendem Sonnenschein breche ich auf, und zwar auf der Ardgour-Seite von Loch Linnhe, wo kein Verkehr ist. Mein Freund, der Ben Nevis hüllt sich noch in Morgennebel. Ich versuche krampfhaft mich zu erinnern, wie wir vor 31 Jahren diesen höchsten Berg Britanniens bestiegen haben. Aber das ist irgendwie weg, ich weiß nur noch, daß dichter Nebel herrschte und nichts zu sehen war. Heute ist das anders, man kann mit 100 km Fernsicht rechnen.

Auf der einsamen Straße radelt man - allein mit den Schafen - wieder so wunderschön, daß man ein Liedchen anstimmen könnte. Leider habe ich keinen schottischen Song auf Lager, ich summe dann immer: ...ich will zur schönen Sommerszeit, ins Land der Franken fahren... Paßt nicht so ganz hier her, ich weiß. Ab und zu muß man doch mal absteigen, wenn ein Cattlegrid auftaucht. Ich würde keinem raten, mit einem bepackten Rad über die querliegenden Eisenträger zu fahren, der Reifen könnte durchschlagen - heißt das nicht "snail bit"? - oder die Felge könnte Schaden nehmen. Nun sehe ich zur Rechten wieder eine Lachsfarm. Das sind kastenartige Gehege im Wasser, wo man die Lachse in Gefangenschaft mästet. Wenn man weiß, wie wanderfreudig die Lachse (...sind Tag für Tag auf Achse...) ihr Leben gestalten, so tut einem das weh. Man kann die Lachse in ihrem Gefängnis sogar springen sehen, aber das geschieht sich er nicht aus Freude.

Den berühmten Ort Fort William kann man nun von weitem betrachten, das sieht gar nicht gut aus. Da hat man mit einigen grauen Gebäudekästen oben am Berghang wohl weniger der Schönheit des Ortes gedacht. Die Straße knickt nun mit Erreichen von Loch Eil nach Westen. Und was für eine Überraschung, wieder Rückenwind wegen der Schönwetterlage, womit habe ich das verdient? So rollt man weiterhin auf das angenehmste dahin, man sieht weitere Lachsfarmen und dann kommt die schönste Telefonzelle der Welt. Jedenfalls taufe ich sie so, wobei ich die umgebende Landschaft mit einbeziehe. Es ist in ganz Britannien erstaunlich, wo man überall Telefonzellen antrifft. Damit es nicht langweilig wird - aber wie sollte es - taucht noch eine Ansammlung von Graureihern am Ufer auf, so an die 10 sind es. Bevor ich die Kamera gezückt habe, fliegen sie auf.

Am Ende von Loch Eil unterquert man eine Eisenbahnunterführung. Wie bestellt ertönt auch schon das muntere Signal einer Lokomotive, ein Dampfschweif verrät, hier handelt es sich um eine Dampfeisenbahn. Mehr ist im Moment nicht zu sehen, der Spuk ist schon vorbei. Wenige Meilen weiter erreicht man Glenfinnan. Dort parken die Reisebusse, da muß doch was zu sehen sein! Zum einen ist hier das Ende von Loch Shiel, ein langgezogenes Gewässer, das den Bezirk Ardgour durchschneidet. Und dann ist da noch ein Denkmal mit einer steinernen Figur oben drauf. "For Scotlands Honor" ist irgendwo zu lesen. Es handelt sich um ein "Memorial" in Angedenken an eine "1745 Jacobite Rebellion" mit "Bonnie Prince Charles". Wer näheres darüber wissen will, wird sich zu helfen wissen.

Ich werde dagegen angesprochen von den Schweizern vom Ardgour Inn, die gerade des Weges kommen. Ob ich hierher mit dem Fahrrad gefahren sei? Logo, und wieviel Kilometer? Der Blick auf den Tacho zeigt: 40.5, und das in zwei Stunden, da habe ich ja wirklich heute einen guten Schnitt drauf. Nun geht es aber erst mal eine ordentliche Steigung rauf und es eröffnet sich ein atemberaubendes grünes Hochtal. Das wird ja immer großartiger, man spürt gar nicht mehr die Beine beim Pedalieren, sondern hat das Gefühl, in einem überdimensionalen Kino die Landschaft auf sich zu gleiten zu sehen.

Und nun ist wieder was im Busch oder besser, auf allen begehbaren Hügeln. Da sind die Leute zugange und installieren Stative, Kameras, Teleobjektive und Kamcorder. An einer Eisenbahnüberführung halte ich an und frage einen der beflissenen Fotofreunde, was denn hier los sei. Aber ich sehe es schon an seinen Augen, der ist ganz durcheinander und sprudelt los: "The train will leave at ten forty five, it's a steam engine, you know!". Und dann an seine stativschwenkende Gattin gewandt: "You better go up that hill, Sheila!". Na, das ist doch mal was, vielleicht könnte ich ja auch ein gutes Foto gebrauchen, so einen historischen Dampfzug mit dem verblassenden Ben Nevis im Hintergrund. Also begebe ich mich auch "up that hill" und setze mich mit gezückter Kamera ins Gras.

Wie das bei der Eisenbahn so ist, der Zug kommt und kommt nicht. Dann wird mir das zu bunt, ich habe ja auch schließlich noch was anderes zu tun, mache das Foto mit den leeren Gleisen und fahre weiter. Und doch bin ich infiziert, gucke immer wieder nach hinten, kommt der Zug nun und kann ich gerade ein Foto schießen? An einer geeigneten Stelle suche ich das Farnkraut auf, um den morgendlichen Tee durch das Hosenbein zu entsorgen. Und da kommt das Bähnle tatsächlich heran gepfiffen und gedampft, kaum habe ich die Hände frei, kann ich mein Foto machen.

Einschub: Auf der Rückfahrt mit der Bahn viele viele Tage später finde ich in der Zeitschrift "Scotrail Outlook 7/99 June - July" einen Artikel über das Highland Rover Ticket, mit dem man kreuz und quer in dieser Gegend mit der Bahn reisen kann, folgende Notiz: One of the greatest railway journeys of the world ...In summer the "Jacobite" steam train runs from Fort William to Mallaig offering a chance to savour a taste of the great era of steam...

Ich denke an meinen lieben Internetfreund und Eisenbahnfreak Terje M. in Norwegen, dem mache ich mit Sicherheit eine Freude mit diesem Erlebnis. Und wenn man nicht auf sowas vorbereitet ist, dann rückt das schnell in den Bereich einer Sensation. Nun ja, ich rolle in Hochstimmung weiter, wie man sich denken kann, durch diese phantastische Landschaft im Sonnenschein. Mit Erreichen der Küste, hier Sound of Arisaig wird das alles immer großartiger. Es herrschen heute Lichtverhältnisse wie man sie vom Mittelmeer kennt. Wann hat man das schon in Schottland? Ich werde das Gefühl nicht los, heute sei Sonntag.

Ich kann die vielen Ausblicke auf die azurblaue See mit den Konturen der Inseln im Hintergrund nicht mit Worten schildern. Auch fotografieren läßt sich das nur in Ausschnitten, setzt man sich hin und läßt so ein komplettes Panorama auf sich wirken, treiben nur zwei Worte durch den Kopf (man denkt ja schon in Englisch): "Unbelievable" und "Incredible". Die Straße hat noch mehr zu bieten, hier an der Westseite von South und North Morar. Eine urwaldartige Vegetation, gewaltige Mammutbäume, erstaunlich für diese Klimazone. Auch ein wenig Kultur: an einem Friedhof mit Kirchenruine findet man einen Hinweis auf einen großen gälischen Dichter mit dem schwierigen Namen Mhaighstir Alasdair, 1700-1770. Der soll auf diesem Friedhof ruhen, aber man weiß nicht wo.

Die Straße windet sich durch die Hügel, auf und ab. Aber dann hat man des Guten zuviel getan. Mit Europageldern finanziert hat man eine breite Trasse angelegt, die den Weg frei macht, wie es in einer gewissen Werbung bei uns heißt. Es ist die Frage, ob das außer den entscheidenden Politikern und den ausführenden Baufirmen jemand gut findet.

Kurz vor Malleig kommt mir der weltberühmte Dampfzug schon wieder entgegen, zum Glück stehe ich gerade wieder am Straßenrand. In Malleig komme ich wieder "just in time" an, natürlich habe ich unterwegs auch schon ein wenig mit den verbleibenden Meilen gerechnet, die Methode habe ich ja schon erläutert. So überquere ich alsbald dank der Caledonian Mac Brayne den Sound of Sleat hinüber auf die Insel Skye. Ein Dudelsackspieler hat sich - leider - vor ein paar Mülltonnen postiert und spielt den ankommenden Passagieren eins auf, um sein Taschengeld aufzubessern.

Soll ich weiter von der Landschaft schwärmen? Ich muß es! Das Panorama ist unbeschreiblich. Daher beschreibe ich es nicht, es geht einfach nicht. An einer Bucht versuche ich ein Panoramafoto, eins links, eins rechts mit jeweils einem Bezugspunkt in der Mitte. Es ist gelungen!

Aber in der modernen Zeit, in der wir leben, hat man sich in den Kopf gesetzt, die unbedeutende Strecke von Ardvasar bis Broadford auf der Insel Skye in eine Rennbahn zu verwandeln. Die alte Straße ist gerade noch erkennbar, wie sie sich durch die braunen mit Heidekraut überwachsenen Hügel schlängelt. Die neue Straße dagegen ist als durchgefräste Trasse angelegt, die Baufahrzeuge sind noch an der Arbeit. Zum Fahren mag das ganz angenehm sein, leider lassen sich die motorisierten Verkehrsteilnehmer aber zu einem 100 Meilen Tempo verführen, und wem soll das nützen.

Einschub: Motorradfahrer. Ein Thema für sich. Sicher ist Schottland ein Paradies für unsere Easy Rider, wozu man sich gelegentlich auch schon mal mit einem Western Hut ziert. Wenn ich dann mal einen Berg hinauf schiebe und sie mit stolz erhobenem Gesäß an mir vorbei rauschen, dann habe ich doch öfter mit den Zähnen geknirscht. Ich gebe zu, es sind verschiedene Welten, mit den eigenen Beinen ganz England zu erstrampeln oder prahlerisch zu verkünden: "Wir haben die Western Islands abgedüst". Wer kann stolzer sein? Wer hat mehr gesehen?

Sorry, das mußte mal raus. Sitze ich also gerade wieder vor einer Ginsterhecke und bewundere die Landschaft, da fahren zwei Mädchen vorbei, die Nationalität verrät sich augenblicklich mit dem Ausruf "Guck mal, der hat auch Ortliebtaschen". "Ich hole Euch gleich ein!" rufe ich hinterher, doch dazu kommt es nicht. Die Mädchen sind wohl runter in den Ort Kyle of Lochalsh gefahren, einen der bekanntesten Orte Schottlands. Hier setzt man mit der Fähre auf die Insel Skye über, inzwischen hat man eine Brücke gebaut, die das Loch Alsh überspannt. Sicher ist es immer noch romantischer, die Fähre zu benutzen. Aber über die Brücke geht es natürlich schneller. So verlasse ich die Insel Skye am Spätnachmittag auf die weniger romantische Art und freue mich wieder, daß das Passieren der Brücke für Radfahrer kostenfrei ist.

Für ein Quartier sehe ich den Ort Plockton vor, "The Jewel of the Highlands", der etwas weiter nördlich am Loch Carron liegt. Irgendwo steht ein Schild, dem zu entnehmen ist, daß Plockton im Jahr 1994 den Preis des gastlichsten Ortes in Schottland verliehen bekommen hat. Dann bin ich ja da richtig. Nur daß ich den Ort zunächst gar nicht finde. Zwischen den Häusern, die ich dafür halte, irre ich mal wieder auf der Suche nach einem B&B herum. Eine hilfsbereite Dame bietet ein "Bunkhaus" mit "Self Catering" an, das ist ein Bungalow mit Selbstversorgung. Ich schaue zwar kurz hinein, aber das ist nicht, was ich suche. Auf die Frage nach einem Hotel sagt sie, unten im Dorf gäbe es eine Menge. "ich dachte, ich sei schon im Dorf" sage ich sinngemäß und erfahre, daß ich erst noch eine Gefällstrecke runterfahren muß. Und da ist dann das eigentliche Plockton, von dem man sich auch vorstellen kann, daß es einmal einen Preis gewonnen hat.

Ich werde im Haven Hotel aufgenommen zu einem Preis, der zwar ein Abenddinner mit enthält, den ich aber lieber verschweige. Bereut habe ich es nicht, schon gar nicht nach so einem einzigartigen Fahrradtag. Angemessen in Schale - wenn man von ein paar Knitterfalten absieht, begebe ich mich zur gegebenen Zeit in den Dining Room. An dem Tisch mit meiner Zimmernummer darf ich mich niederlassen und der Dinge harren. Am Nebentisch sitzt ein älteres Ehepaar, die auf die vornehme Art zu speisen verstehen, da kann man notfalls sich das Notwendigste abgucken.

Die Abfolge des Dinners ist:

Agyr Ham Slices, Soup, Tuna Filet, Fruit Salad and Ice

Kaum zu glauben, was innerhalb einer knappen Stunde so in einen hinein paßt. Nur das zweite Bier hätte ich lieber nicht bestellen sollen, am Schluß bekomme ich Magenschmerzen und muß das halbe Glas stehen lassen, das passiert mir äußerst selten. Dringend angeraten ist daher ein Rundgang. Die Abendsonne taucht alles in ein gelbes Licht. Damit nichts fehlt, steht rechts auf einer Anhöhe auch eine Burgruine herum. Der Weg führt mich natürlich auch über den Friedhof, wo die Rasenfläche vor jedem Grabstein eine Kuhle bildet. Anscheinend ist der Boden durch die verwitternden Särge nach gesackt, und das gruselt.

Am Abend brauche ich keine Lektüre. Ich habe übrigens - wohl wegen des Titels - "Ein Mann will nach oben" von Hans Fallada dabei, da habe ich auf der ganzen Tour nicht einen Satz gelesen. Heute lese ich in meinen Erinnerungen und den Bildern des Tages. Weniger prosaisch ist mein Aussehen, wegen einiger Sonnenbrände auf der Stirn, Nase und Ohren creme ich mich mit Penatencreme ein und sehe aus wie ein Irokese. Aber ich wohne ja "en suite", d.h mit Dusche und Toilette und muß nicht mehr über die Gänge und Leute erschrecken.

13. Tag, Donnerstag: Plockton - Glenn Carron - Loch Glascarnoch - Ullapool
8.30-18.00, 132 km trp, 16.3 km/h avg, 56.7 km/h max, 1629 km total

Wie meistens beginnt es heute bergig bis man einer Engstelle des Loch Carron den Ort Stromferry erreicht. Damit sich keiner falschen Hoffnungen hingibt, ist ausdrücklich ausgeschildert "No Ferry". Man biegt auf die A890 ein, die einen hinauf zum Glen Carron führt, ratet mal, wie der Fluß hier heißt: natürlich Carron. Heute habe ich wieder einen strammen - wenn Euch das nicht interessiert, mich geht es schon was an - Rückenwind. Der bläst einen geradezu das Hochtal hinauf. Das ist zunächst geprägt von Fichtenwäldern, wo man eifrig abholzt, hoffentlich weiß man, was man tut. Eine große Libelle voraus entpuppt sich als Hubschrauber, der anscheinend zu Arbeiten an der Flußregulierung eingesetzt wird. Als man die Baumgrenze hinter sich hat, wird die Landschaft wieder toll, hier herrscht die Farbe braun durch das Heidekraut vor. Die Berge ringsum sind um die 1000 m hoch, man erkennt einzelne Schneereste.

Auf der weiten Hochfläche findet man ein paar vereinzelte Steinhäuser, die verlassen sind. Unter welchen Bedingungen haben die Menschen hier einmal gelebt? Als sie es nicht mehr ausgehalten haben, sind sie sicher ausgewandert oder nach Ullapool gezogen. Man muß sich mal vorstellen, wie die Winter hier oben sind, kann man gar nicht, wenn die Sonne so schön scheint. Heute hat man hier wieder eine Rennstrecke geschaffen, die ist wohl erst im vergangenen Jahr fertig geworden. Wozu? In Achnasheen hat man etwa den höchsten Punkt erreicht. Neben einer Telefonzelle mache ich mir Gedanken, welche denn nun die schönste der Welt sein mag.

Es folgt eine phantastische Abfahrt durch ein Ginsterparadies. Die Straße führt über 15 Meilen = 24 km leicht abwärts - man stelle sich das mal vor bei Rückenwind, Sonnenschein und klarer Fernsicht. Die Pedalen kommen wenig zum Einsatz. Schließlich erreicht man den Fluß mit dem schönen Namen Black Water, da geht es wieder aufwärts Richtung Nordwesten. Damit ist es mit dem Rückenwind vorbei, aber man muß ja auch mal was tun.

Entschädigt wird man oben an dem Stausee Loch Glascarnoch. Die Gegend ist moorig, schwarze Wasserlöcher glänzen seitwärts der Straße. Da bleibt man lieber auf sicherem Boden. Die Highlands ringsum sind gänzlich unbewohnt, es handelt sich um eine Urlandschaft, die sich Jahrtausende nicht verändert haben mag. Ich habe genug Phantasie, mir das Ganze hier unter unwirtlichen Wetterbedingungen vorzustellen. Hätte man das Pech mit Sturm und Regen- oder Schneeschauern, würde man hier nie wieder herkommen. Wenn es so wie heute ist, verfällt man Schottland, man muß Glück haben, und das habe ich!

Nach sausender Abfahrt erreicht man einen gutbesetzten Parkplatz, und da ist wieder etwas zu bestaunen: Corrieshalloch Gorge. Das ist eine tief eingeschnittene Schlucht, wo die Felsen mit üppiger Vegetation überzogen sind. Einen Wasserfall gibt es auch, wie es sich gehört. Es geht auf die letzten Meilen bis Ullapool. Da legt gerade ein Schiff zu den äußeren Hebriden ab. Ich bin mit meiner Entscheidung "Out of Oban" mehr als zufrieden, hier in Ullapool wäre ich erst einen Tag später eingetroffen, und so habe ich die End-to-End-Tour doch komplett auf dem Rad zurückgelegt. Noch bin ich allerdings nicht da.

In Ullapool fange ich wieder an zu "fremdeln". Das ist anscheinend eine Radfahrerkrankheit, sobald man in ein geschäftiges Treiben gerät, und hier geht es reichlich touristisch zu. Das Touristenbüro hat allerdings bereits geschlossen. Ich beschließe, einen Ort weiter zu fahren, nach Ardmair. Hätte ich das nicht gemacht, wäre mir nicht eines der schönsten Bilder gelungen. Es geht nämlich eine steile Rampe hinauf und da oben hat man natürlich einen herrlichen Blick über Loch Broom und die Berge dahinter, wo ich gerade her gekommen bin. Es geht danach noch munter rauf und runter, bis man die 5 km bis Ardmair bewältigt hat.

Doch oh Schreck, hier gibt es gerade mal drei Häuser, da kann man wohl kaum übernachten. Auch der Campingplatz kann mich nicht locken, hier ist ja der Hund verfroren. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als rauf und runter zurück nach Ullapool zu fahren. Immerhin erreiche ich auf der steilen Rampe abwärts meine heutige Höchstgeschwindigkeit. Und wieder habe ich Schwierigkeiten, ein Quartier zu finden. Die wollen alle nicht an eine Einzelperson vermieten. Die Schotten sind sparsam, sagt man, doch ich verstehe nicht, daß man nicht lieber eine Einzelperson nimmt anstatt gar keinen. Aber die Leute sind hilfsbereit, und so hat man mich schließlich zu Mrs. Joan Moffat, 1 Broombank gelotst. Dort gibt es ein Einzelzimmer.

Nun ist es spät geworden und ich muß noch essen gehen. Ich setze mich aufs Rad und kurve in dem Ort herum. Ich finde nichts gescheites, einmal werde ich in eine Bar abgeschoben, wo ein Mordskrach herrscht. Da bin ich schnell wieder draußen. Am Hafen ist ein Seafood Restaurant, da sitze ich verloren drin und keiner beachtet mich, schon gar nicht die Bedienung. Da gehe ich dann auch wieder. Um die Ecke gibt es ein "Take away" für Fish and Chips. Das ist die einzige Lösung. Ich bestelle eine Portion. Doch leider hat wohl so ein Bautrupp schon vor mir bestellt, die schleppen erst mal so an die 10 Portionen ab. Und ich muß warten, eine halbe Stunde lang, meine Speicheldrüsen arbeiten schon. Endlich bekomme ich das Paket ausgehändigt - und wohin nun damit? Ein Verbotsschild untersagt, das an Ort und Stelle zu verzehren, da hat man wohl keine Konzession (License). Also den ganzen Krempel in die Lenkertasche und zurück ins Quartier. "Did you get your meal?" werde ich gefragt. "Yes, at the harbour" antworte ich wahrheitsgemäß. Dann verziehe ich mich schnell in mein trautes Zimmer und falle unter Einhaltung aller gebotenen Sauberkeitsregeln mit bloßen Fingern über die Portion her. Es bleibt nichts übrig.

Einschub: Wenn man in einer solchen Situation dann noch Lust auf ein Bier hat, was soll man machen? Eine laute Bar aufsuchen? Und da auch noch saftige Preise löhnen? Ich habe es Euch bisher verschwiegen: ich habe mir immer beizeiten ein Viererpack besorgt, wenn man das im Gepäck hat, ist der abendliche Genuß gesichert. Ich hoffe, mich damit zwar als leidenschaftlicher Biertrinker und nicht als Alkoholiker geoutet zu haben.

So findet man mich heute Abend über die Karte gebeugt, einen Zahnputzbecher mit dem kostbaren Getränk leerend, bis die Bettschwere ihr Recht fordert.

14. Tag, Freitag: Ullapool - Durness - Loch Eriboll
8.00-18.00, 121 km trp, 15.4 km/h avg, 55.3 km/h max, 1750 km total

Was mich am meisten freut - das Frühstück war übrigens wieder ausgezeichnet - heute darf ich zum zweiten Mal die steile Rampe hinauf schieben. Aber das ist am Morgen mit frischen Beinen ein anderer Schnack als ausgepowert am Abend. Dafür wieder eine kleine Beobachtung: ein Milchmann stellt die Flaschen an einem Gattertor eines entfernt liegenden Anwesens ab. Ein kleiner Hund wartet schon, und rennt sogleich freudig kläffend zu seiner Herrschaft, das Eintreffen der Morgenmilch zu vermelden. "Ist doch süß, oder?" würde meine liebe Frau sagen, an die ich ja auch hin und wieder mal denken muß (natürlich habe ich jeden zweiten Tag zu Hause angerufen, von den schönsten Telefonzellen der Welt).

Heute morgen interessiert mich, wie lange ich am Vorabend noch hätte fahren müssen, um ein Quartier zu finden. Das Resultat ist: genau 10 km, da ist ein Anwesen mit B&B sowie "Evening Meal available". Heute nützt mir das nichts mehr, dafür habe ich Probleme mit der Schaltung. Da geht nicht mehr viel. Man denkt sich dann, die Schaltzüge mögen sich durch die ständige Beanspruchung gedehnt haben. Kein Problem, das notwendige Werkzeug habe ich dabei, und schon sind beide Schaltzüge um ca. 1 cm verkürzt. Das hätte ich lieber lassen sollen. Kurz darauf knackt es vernehmlich im linken Schalter (der für die vorderen Kettenblätter) und dann ist Ruhe, d.h. man schaltet ins Leere. Die Kette läuft damit nur noch auf dem kleinen Blatt, dem Berggang. Da es oft bergan geht, ist das gar nicht mal schlimm, auf Ebenen oder Gefällestrecken betätige ich mich nun allerdings als "High Speed Pedailleur". Bald gebe ich das auf und trete gar nicht mehr,

Den technischen Eingriff habe ich an einer Telefonzelle vorgenommen. Dort liegt eine ausrangierte Tageszeitung, "Inverness News" oder so. Da wird über einen Unglücksfall mit tragischem Ausgang berichtet, der sich am "Strathy Point, near the Lighthouse" ereignet hat. Der Strathy Point liegt an der Nordküste, wo ich auch noch lang kommen werde, wenn alles gut geht, deshalb interessiert das. Eine Frau ist dort mit ihrem nicht angeleinten Hund spazieren gegangen, woraufhin der Hund über die Klippen (down the cliff) abrutschte und sich winselnd auf einem Felsvorsprung wieder fand. Den Versuch, den Hund zu retten, hat die Frau mit dem Leben bezahlt. Sie ist 30 m abgestürzt. Küstenwache, Rettungsdienste, Hubschrauber - es hat ihr nichts genützt. Den Hund aber hat man geborgen - unverletzt.

Nun gilt es wieder, die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten. Ich könnte sie beschreiben, aber sage lieber, es ist nicht so, daß sich irgend etwas wiederholt. Die Hochtäler, Berge und Küstenabschnitte haben jeweils ihren eigenen Charakter. Wenn ich das so genau beschreiben könnte, wie es in Wirklichkeit aussieht, dann brauchte ja kein Leser mehr dorthin fahren. Und das wäre schade.

So ein kleines Zwischenziel in dieser einsamen Gegend ist der Ort Ledmore, da treffen drei Straßen aufeinander. Genau so viele Häuser gibt es hier. Es geht hinauf über einen kleinen Paß und dann hinunter zum Loch Assynt. Dort liegt an einer Kuppe die verwitterte Ruine von Ardvreck Castle. Da fragt man sich doch, welches Dasein haben in grauer Vorzeit die Menschen hier oben in dieser gottverlassenen Gegend gefristet. Da müßte man sich mal genauer mit der schottischen Geschichte befassen, im Augenblick bin ich nicht kompetent.

Es folgt wieder eine steile Steigung, damit muß man hier leben, aber ich habe ja meinen Automatik - Berggang, trotzdem muß man hin und wieder schieben. Hinunter zu dem schwierigen Namen Loch a' Chairn Bhain, wo eine flache Brücke hinüber führt. So geht das immer weiter, bis man die Laxford Bridge erreicht. Leider habe ich mir die näheren Daten auf der Schautafel nicht abgeschrieben, früher gab es hier mal eine Fähre, das ist sicher. Ein älteres Ehepaar auf dem Parkplatz, die packen gerade ihre Picknicksachen samt Klappstühlen aus. Wir wechseln ein paar Worte: "Interesting Place here" und so. Wenig später raste ich einmal wieder an einem Cattle Grid, da taucht am Horizont schwer bepackt eine Art fahrradfahrendes Hotel auf. Es handelt sich um eine Dame aus der Schweiz mit kompletter Campingausrüstung. Bald finden wir heraus, daß man sich auf Deutsch unterhalten kann. Das Gespräch ist hoch interessant. Man ist von Zürich nach Glasgow geflogen, dann mit dem Zug bis Thurso (diesen Ort werden wir noch kennen lernen, wenn alles gut geht), um die Orkney Islands zu besuchen. Nun geht es zurück nach Ullapool, um wieder den Anschluß an die Welt zu finden. Nun komme ich auch einmal zu Wort und schwärme von der Schönheit der Schottischen Landschaft. Da renne ich offene Türen ein, für eine Schweizerin erstaunlich, da ihr Land ja auch nicht gerade öde zu nennen ist, bekennt sie sich als absolute Schottland-Liebhaberin. Es gipfelt in dem Satz, den man besser nicht sagen kann: "Wenn ich einmal sterbe, werde ich glücklich sein, daß ich soviel schönes gesehen habe".

Der Ort Durness wird mir noch empfohlen, die Strände, der Sonnenuntergang, da bleibt man glatt einen Tag länger. Ungern trennen wir uns in unsere verschiedene Richtungen, und ich habe Gelegenheit, über den Satz nachzudenken "Wenn ich einmal sterbe...". Das ist jetzt ein wenig sentimental geworden. Um es spannend zu machen, wißt Ihr, daß mir heute Abend auch noch die Tränen kommen werden? Im Moment weiß ich es auch noch nicht.

Es geht auf der A838 auf das letzte Teilstück zur Nordküste Schottlands. Auf 180 m muß man etwa klettern und erlebt wieder die Urlandschaft satt. Von Wasserläufen durchfurchte Berghänge, Moorflächen, hier sind die Torfstecher zugange, die getrockneten Torfsoden dienen in den langen Wintern als Heizmaterial. Kurz vor der letzten Höhe steht ein Warnschild "Blind Summit" - will heißen: "Unübersichtliche Kuppe". Die ist so unübersichtlich, daß man von hier oben das erste mal SIE sieht, die See im Norden. Man muß nicht bis John O' Groats fahren, wenn man die Nordkante Schottlands erreicht hat und in Penzance gestartet ist, dann kann man sagen, wie der English Speaker zu tun pflegt: "I did it!". Bin ich schon wunderlich? Bei der Abfahrt zur Küste rufe ich hinaus: "I did it I did it I did it".

Irgendwann wird die Balnakeil Bay erreicht. Nicht weit von hier bildet Cape Wrath die nordwestliche Ecke dieses kleinen Kontinents. Aber ich komme an in Durness, Schluß für heute. Nachdem ich vorhin gebeichtet habe, hier kaufe ich mein Viererpack Bier, falls man was zu feiern braucht. Und was ist: ich fremdele wieder. Ich mag nicht in Durness bleiben, es ist gegen 17 Uhr, die beste Zeit, Feierabend zu machen, nach allem! Ich fasse einen unsinnigen Entschluß, auf Risiko weiter zu fahren, denn es folgt kein gescheiter Ort mehr. Es geht vielmehr darum, das ganze Loch Eriboll zu umfahren, davon hat man schon in anderen Tourenberichten gelesen. Ich rechne mir aus, notfalls bis gegen 22 Uhr den Ort Tongue zu erreichen, bzw. einmal ausnahmsweise in der Botanik die kurze Nacht (23-4 Uhr) zu verbringen.

Einschub: Ich merke es wohl beim Niederschreiben, daß die Kapitel immer länger werden, seit ich Schottland erreicht habe. Das ist berechtigt, was hoffentlich der aufmerksame Leser bestätigen wird. Und nun muß ich ein eigenes Kapitel einfügen, weil das Ziel erreicht ist, weil ich einen unglaublichen Abschluß der Tour erlebe, weil mir das Herz überläuft. OK, wieder sentimental, aber das ist es - die kleinen Zeilen am Anfang mit Thanks und so, die stimmen!

Der Abend am Loch Eriboll

Wo waren wir stehen geblieben: beim Ausritt "Out of Durness". Und was sieht man, eine Küste wie in Cornwall, steile Klippen, alles wie gehabt? Aber der Weg ist das Ziel, was man gemerkt haben sollte. Zurück auf die Strecke, mein Weg ist ohne Ziel derzeit, ich fahre auf und ab auf Loch Eriboll zu. Da geht es bekanntlich einmal rund herum, und auf der anderen Seite kann man schon die Straße erkennen, wie sie sich wieder den Berg hinauf windet. Bis dahin sind es per Luftlinie eine Meile, auf der Straße aber 15 Meilen. Der einzige Ort, der nun noch kommt, heißt Laid. Der ist schnell erreicht. Und da steht B&B, Evening Meal available. Ich fahre vor mit dem Gedanken (wie in Durness nach der Regenfahrt), hier vertreibt mich keiner!

Ich gehe in das offene neu erbaute Haus, bis mich ein junger Mann empfängt, mir sogleich mehrere Zimmer zur Auswahl vorschlägt, worauf ich das mit dem Blick auf Loch Eriboll wähle, was aber nichts zur Sache tut, denn ich bin am Ziel, lade das Gepäck ab und bin geborgen. Übrigens steht gleich vor der Haustür wieder eine dieser Telefonzellen, die ich heute nicht brauche, weil ich erst gestern zu Hause angerufen habe, die aber trotzdem in die engere Wahl für die schönste Telefonzelle der Welt einbezogen werden muß.

Ich gehe duschen, was heißt, daß die Dusche gar nicht angeschlossen ist, dafür aber man sich mit der Badewanne aushelfen kann. Als ob das eine Rolle spielt. Mit meinem Gastgeber, der übrigens aussieht wie andernorts gut umschwärmte Surf- oder Tauchlehrer - Anfang 30 mit gepflegtem Schnurrbart - verabrede ich das Abendessen, gehe vorher noch ein Foto machen von einem verfallenen Anwesen, und werde dann auf das beste mit einer großen Tomatensuppe und einem Beefsteak bewirtet. Ist das nicht besser, als irgendwo mang dem Stechginster seine Nacht zu verbringen? Ich sollte mal runtergehen zum Loch, wird mir vorgeschlagen, gehört alles zum Anwesen, unten liege ein Schiff, "Without engine". Das Ding entpuppt sich dann als ein ausrangiertes Fährschiff auf dem Trockenen.

Und nun sitze ich da auf einem Felsblock, am Loch Eriboll bei untergehender Sonne, genieße das Farbenspiel, die Wellen plätschern. Was war das, diese Tour? Ein Traum oder Wirklichkeit? Benommen gehe ich zurück durch das Heidekraut, selbst Torfstechen kann mein Gastgeber auf seinem eigenen Grundstück. Und Austern hat er in durchlöcherten Plastikfässern ausgesetzt, 3 1/2 Jahre braucht es, bis man ernten kann.

Es kommt noch doller. Die Mutter von Hugh, so heißt mein Gastgeber, war Lehrerin und hat aus den Überlieferungen der Großmutter, einer großen Geschichtenerzählerin, ein kleines Büchlein zusammengestellt:

DOWN MEMORY LANE

By Catherine Mac Kay

Folklore Tales and Reminiscenses

of the West Side of Loch Eriboll

between Rispond and Faolimn

Einmal reingelesen und nicht mehr aufgehört. Da wird aus alter Zeit erzählt, als im Jahre 1841 die wohlhabenden Landlords die Einwohner zugunsten der lohnenderen Schafzucht umgesiedelt haben, "Clearances" nannte man das damals. Die armen Menschen haben dann das ihnen zugewiesene Land urbar gemacht, das Heidekraut gerodet, um Kartoffeln und Gemüse anzubauen. Viele Menschen lebten hier, über 40 Kinder gingen zur Schule. Heute gibt es nur noch an die 10 Leute hier. Aber damals, da gab es fahrende Händler, denen in diesem Buch ein Denkmal gesetzt ist, da gab es Auswanderer, die zurückkehrten aus Australien und mit einem Nugget beim Goldgraben ihr Glück gemacht haben, durch einen Mord aber auch den Spuk nicht los wurden, da gab es den Musikspieler (Chanter?) im Fresgil House hoch auf den Klippen, dessen Musik noch lange nach seinem Tod zu hören war, da gab es und da gab es...

Ich hoffe nicht, den Datenschutz zu verletzen. Im übrigen ist es auch etwas traurig. Die Frau von Hugh, der früher zur See fuhr und dabei viel Geld verdient hat, ist mit dem Alkohol nicht klar gekommen, also Divorce = Scheidung, die Kinder blieben bei dem Vater. Hugh blieb zu Hause, aus Liebe zu den Kindern und zu seinem Land. Am nördlichsten Ende Schottlands an so einem Schicksal teilzunehmen, das ist schon etwas. In meine Notizen habe ich in großen Buchstaben eingetragen: "The best Evening of the Tour". Als mir Hugh am nächsten Morgen auf der gleichen Seite seine Adresse aufschreibt, muß er es gelesen haben, und ich denke, er hat sich gefreut.

Falls mal jemand dort vorbei kommt, kann er ja vorbei schauen bei:

Hugh Mac Lellan,
Rowan House, 90 Laid Sutherland.

15. Tag, Samstag: Loch Eriboll - Tongue - Thurso
8.30-18.30, 105 km trp, 12.6 km/h avg, 51.8 km/h max, 1855 km total

Es geht an die letzte Etappe, der letzte volle Fahrtag. Ich freue mich darauf, an der Nordkante Schottland von West nach Ost zu fahren, da ist der einkalkulierte Rückenwind eine Bank. Nach dem Frühstück verabschiede ich mich von Hugh, der mir noch nachwinkt. Nun muß man bekanntlich Loch Eriboll umrunden, das geht bis zur südlichen Spitze noch etwas beschwerlich vor sich, da der Wind von vorne kommt. Danach bläst einen der Wind geradezu den Berg hinauf. Ich habe noch einmal einen schönen Blick auf mein gestriges Quartier und die kleine Insel Eilean Choraidh, wo Mauerreste anzeigen, daß sie auch einmal besiedelt war.

Steil geht es nun aus dem Taleinschnitt hinauf. Oben haust ein Pärchen in einem Zelt und der Mann ruft mir ein paar aufmunternde Worte zu. Dann steigt ein Mann aus einem Wagen und es passiert etwas wunderbares, er schenkt mir eine Dose Bier als Belohnung für den Aufstieg. Er kommt aus Hull und will meine Lobpreisungen über Schottland gar nicht hören, das kennt er wohl schon. Jedenfalls freue ich mich mächtig über diese kleine Geste (das Bier wird natürlich erst am Abend seiner Bestimmung überführt).

Nun geht es zwar hinunter nach Hope, was wieder auf Meereshöhe liegt. Und ich muß feststellen, daß meine Kalkulation mit dem Rückenwind nicht aufgeht. Es herrscht ein ruppiger Südostwind, das heißt heute auf dem letzten Tag muß ich bezahlen für mein bisheriges Glück. Aber keiner soll denken, daß ich mich darüber ärgere. Aber der letzte Tag wird der härteste, so kann es kommen. Es liegt nicht nur am Wind, sondern auch daran, daß man mehrere male die Highlands erklimmen muß, um dann wieder auf Meeresniveau hinunter zu fahren. Das gibt natürlich Einblicke in die Steilküsten und weißen Strände, die es hier auch gibt. Zum Baden wird es einen hier hoch im Norden wohl nur selten gelüsten. Über eine Brücke erreicht man den Ort Tongue, dann geht es wieder hinauf - wie schon erwähnt, um dann wieder hinab zu dem Ort mit dem schönen Namen Bettyhill zu führen.

Auf der Hochfläche höre ich einmal ein lautes sausendes Geräusch und suche den Himmel nach einem Flugzeug ab. Es handelt sich aber um ein Windrad, das an einem Trinkwasser-Reservoir vor sich hin knattert. Daran kann man sehen wie stark der Wind heute weht. Ein anderes Mal kreuzt eine Schar Graugänse samt Nachwuchs die Fahrbahn, da sind alle Verkehrsteilnehmer sehr rücksichtsvoll. Ich komme dann auch irgendwann an jenem Strathy Point vorbei, wo sich vor einigen Tagen dieses Unglück mit dem Hund ereignet hat. An einer erhöhten Stelle kann man von der Straße aus hinten den Leuchtturm von Strathy Point erkennen, voraus sind die Bauten einer Industrieanlage. Ich nehme an, daß es sich man nun schon das Ziel Thurso im Viesier habe, habe mich aber getäuscht. Es handelt sich um das "Dounreay Nuclear Power Development Establishment". Ich wende mich lieber wieder den Kühen auf den Weiden zu.

Immerhin hat es nun mit den Steigungen ein Ende, dafür geht die Straße ewig schnurgeradeaus und will kein Ende nehmen. Und dann taucht sie doch auf, die Stadt Thurso, Wunschziel der End-to-End-Fahrer, sofern sie von Süden kommen. Das Ortsschild "Welcome to Thurso" ist ein Foto wert.

Heute fremdele ich nicht und frage ein paar Passanten in folgender Reihenfolge: Wo ist ein chinesisches Restaurant? Wo ist der Bahnhof? Wo finde ich ein Bed&Breakfast? Kein Problem, alles Gewünschte liegt nur wenige 100 m auseinander. Mein Quartier bekomme ich bei

Jean and Bill Brown, 26 Sinclair Street. Ich melde mich für zwei Übernachtungen an. Die Begrüßungworte: "You are the first German cyclist doing end-to-end coming in. We always had crazy Englishmen". Damit bin ich mit "The German cyclist" eingeführt.

Wenig später marschiere ich los und nehme erst einmal die Parade einer Dudelsack-Kapelle ab, die anscheinend mir zu Ehren - wie ich mir einbilde - aufmarschiert ist. Die Spieler tragen Fellmützen und Schottenröcke - richtig zünftig! Dann suche ich eine Telefonzelle auf, um meinen Erfolg nach Hause zu melden. Meine liebe Frau: "Du fehlst mir so!". Und ich Esel antworte: "Du fehlst mir überhaupt nicht!". Soll heißen, es geht mir gut, ich komme gut zurecht, ich langweile mich nicht. Hörbar schluckt da aber jemand am anderen Ende der Leitung. Und ehe ich noch etwas sagen kann, ist die Münze aufgebraucht und es klickt.

Mit Gewissensbissen gehe ich zurück zur Dudelsackparade. Da habe ich eine großartige Idee. Hier steht auch eine Telefonzelle, da rufe ich doch gleich nochmal an und übertrage das Dudelsack-Konzert aus Thurso per Telefon nach Hause. 50 Cent finden sich, die Verbindung kommt zustande. In dem Moment ist die Musik zu Ende und die Dudelsackspieler packen ihre Sachen ein. Pech gehabt, "Du fehlst mir doch" ist dann aber das erste, was ich sage, um die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken.

Es gibt ein bekanntes Gedicht von Theodor Storm: "Du graue Stadt am Meer". Das fällt mir in Thurso ein. Doch wieviel unwirtlicher mag das Klima hier im hohen Norden sein, vielleicht paßt das Grau der Häuser da ja ganz gut dazu. Man kann auch ein rauhes Land lieben, was ich am Loch Eriboll so eindrucksvoll erfahren konnte. Wo ich diesen Abend beende? Wer bis hier gelesen hat, weiß es, im China Restaurant, wo ich schlemme.

16. Tag, Sonntag: Thurso - John O' Groats - Dunnet Head - Thurso
8.45-15.30, 80 km trp, 14.6 km/h avg, 40.0 km/h max, 1935 km total

Was ich heute machen muß, ist natürlich Unfug, aber ich muß es machen, weil es alle machen. Das heißt, die Tour offiziell am nordöstlichen Ende, das sich auch Duncansby Head nennt, zu dem offiziellen Abschluß zu bringen. Es ist bekannt, daß es da draußen nichts zu sehen gibt, das kann bestätigt werden - dennoch habe ich an diesem Tag einiges gesehen und möchte nichts davon versäumt haben.

Der Tag ist grau bei gleicher Windrichtung wie gestern, d.h. ich fahre mit Gegenwind los und werde die Rückfahrt bequemer haben. Die Orkney Islands, gestern noch bei klarer Sicht gut zu erkennen, sind heute nur zu erahnen. Dunnet Head, der nördlichste Punkt mit seiner steilen Klippe hinter Ginster, wie das Bild zeigt. Was Lustiges: auf einer Weide sitzt ein kleiner Vogel auf dem wolligen Rücken eines grasenden Schafes. Vielleicht hat er kalte Füße. Und nun das Wiedersehen mit der sonderbaren Blume zwischen dem Lake Distict und Carlisle, hier blüht sie wieder, im Graben einer alten Mühle.

Hinter dem Ort Gills ist eine interessante Schautafel, die vorgelagerte Island of Stroma betreffend. Man kann von hier aus erkennen, wie weiß schäumend die Brecher an den Felsen hinauf lecken. Auf Stroma gibt es heute nur noch Ruinen, vor nicht langer Zeit haben dort noch mehr als 300 Einwohner gelebt. Ein Erwerbszweig bestand darin, passierende Schiffe durch die Tidenströme zu lotsen, die hier eine Geschwindigkeit von bis zu 10 Knoten erreichen. Das war in der Zeit der Segelschiffahrt eine gefährliche Sache.

Während ich in diese Informationen vertieft bin, fahren 3 muntere Radler vorbei, die ich dann an John O' Groats wieder treffe. Ich bin angekommen und halte damit nicht hinter dem Berg - warum auch! Die drei brechen gerade auf, in die andere Richtung, jetzt möchte ich doch nicht tauschen. Wir fotografieren uns gegenseitig, somit gibt es auch ein erstes und letztes Bild von mir an jenem denkwürdigem Ort. Aber sonst ist hier wirklich nichts los. Ich habe dann noch irgendwo gelesen, daß der Name dieses Ortes auf einen gewissen Jan de Groot zurückgeht, der hier im 15. Jahrhundert eine Fähre unterhalten hat.

Ich verabschiede mich von den drei Radlern mit den besten Wünschen, sie nehmen meine Internetadresse auf, damit man vielleicht irgendwann einmal voneinander hört. Sie haben die ganze britische Insel vor sich, ich nur den Rückweg nach Thurso mit dem Wind im Rücken. Das macht man sich am besten nicht so leicht, Zeit genug habe ich ja. Und so lasse ich mich vom Wind noch nach Dunnet Head hinauf blasen. Man kann auch auf einer kleinen Straße entlang der felsigen Küste entlang radeln. Wer auf die blödsinnige Idee gekommen ist, die End-to-End-Tour mit John O' Groats enden zu lassen, weiß ich auch nicht, Dunnet Head wäre ein viel würdigerer Ort.

Erst einmal ist die Anfahrt beeindruckend, durch eine mit Heidekraut bewachsene Urlandschaft, häufig kommt sogar das Knabenkraut vor, erklimmt man den Berg mit dem Leuchtturm auf der Spitze. Da ist zu lesen, daß bei Sturm schon mal kapitale Brecher die Steine 105 m hoch hinauf schleudern und es vorgekommen ist, daß Fenster des Leuchtturms zerschlagen wurden. Ich habe auch das Glück, zwar keinen Sturm aber unwirtliche Verhältnisse anzutreffen, indem es zu regnen beginnt. Das kann mich nun nicht mehr sonderlich schrecken. Und ich kann zu Füßen von Dunnet Head noch ein letztes Foto schießen, auf meiner langen Fahrt durch Schottland hat es sich nicht ergeben: einen kapitalen Bullen der Spezies Highland Cattle.

Im Regen fahre ich schließlich wieder auf der schon bekannten Straße zurück und muß lachen, der kleine Vogel sitzt noch immer (oder wieder) auf jenem Schaf. Durchgeweicht komme ich wieder da an, wo ich für heute hin gehöre und werde empfangen mit "You must be sucked wet!". Das ist richtig, meine Regensachen habe ich aus Bequemlichkeit nicht benutzt. Man hat hier - ein Lob dem technischen Fortschritt - beheizte Handtuchhalter, da ist das alles kein Problem.

Damit es spannend bleibt, bekomme ich nun noch einige Dämpfer. Mit meinen Gastgebern kann ich klären, daß ich bereits morgen um 6.30 mit dem Zug aufbrechen muß. "But if the conductor doesn't want you with your bike, you better come back!". Da guckt aber einer verdutzt. Ich habe nämlich nichts vorgebucht, das ist im Bahnhof von Thurso auch gar nicht möglich, weil das derzeit eine einzige Baustelle ist. Dann sollte ich doch mein schottisches Geld beizeiten verbrauchen, damit habe ich mich gerade erst gestern bei der Royal Bank of Scotland eingedeckt. Meine Wirtsleute sind in der glücklichen Lage, die Scheine mit der Aufschrift Bank of Scotland in Banknoten umzutauschen, wo die Queen drauf ist - wie es sich gehört. Und ein Lunchpaket würde man mir vor die Tür stellen.

Damit - und mit dem Schlemmen beim Chinesen - endet meine End-to-End-Reise. Einen nicht funktionierenden Wecker kann ich noch reparieren (Batteriekontakte), und schlummere dann einer noch ungewissen Heimreise entgegen. Damit kann der geneigt Leser die Lektüre abschließen, obgleich es noch einiges zu erzählen gibt.

1. Tag Rückfahrt, Montag: Thurso - Inverness - Edinburgh -Newcastle, Bahnfahrt

Ein moderner Mensch plant, bucht, reserviert, telefoniert, faxt und mailt. Ich habe nichts dergleichen getan, weiß nur, daß Dienstags ein Schiff der Scandinavian Seaways von Newcastle nach Hamburg verkehrt. Und daß um 6.30 der erste Zug von Thurso nach Inverness abfährt. Nach unruhigem Schlaf wache ich rechtzeitig auf, um den Wecker zu kontrollieren, der pflichtgemäß seinen Dienst tut. Mangels Frühstück habe ich noch genügend Zeit, mir drei Tassen Nescafe rein zu ziehen. Man hat in den meisten Quartieren die Möglichkeit, sich Wasser heiß zu machen und einen Tee oder Kaffee aufzubrühen. Das habe ich bisher versäumt zu berichten, und mache auch erst heute das erste mal Gebrauch davon. Pünktlich bin ich am Bahnhof, es regnet in Strömen. Außer mir finden sich noch vier weitere Radfahrer ein, die haben alle den Radtransport reserviert. Ich hülle mich in Schweigen und bin nach Einfahrt des Zuges der erste im Gepäckabt eil. Das Fahrrad wird an einen Haken gehängt und man verzieht sich schnell in das nächste Abteil.

Eine Fahrkarte habe ich natürlich auch noch nicht. Das erledigt sich aber alles bestens, der Schaffner setzt sich zu einem, zückt einen mittelgroßen Apparat, mit dessen Hilfe sich sogar per Scheckkarte bezahlen läßt. Von meinem Fahrrad sage ich nichts. Ich greife vor - das Fahrrad ist kostenfrei bis Newcastle gereist. Nachdem die Formalitäten erledigt sind, kann man sich der Landschaft widmen. Die Bahnroute führt geradezu im Zickzack durch Nordschottland, überquert mehrere Pässe zwischen Bergen mit Schneefeldern, berührt mehrmals die Küste - und das bedeutet: man hat was davon. Da es aber nicht die Gelegenheit gibt, zu verweilen und die Landschaft auf sich wirken zu lassen, verzichte ich auf eine detaillierte Beschreibung. Sicher ist, an die Großartigkeit der Westküste kann die Landschaft hier nicht heranreichen.

Neben mir sitzen zwei Deutsche Rucksackreisende, die müssen furchtbar eingeregnet gewesen sein, nun tupfen sie mit Papierhandtüchern aus der Toilette an ihrem Zelt und Gepäck herum, das sieht aus, als wenn ein verwundetes Tier sich die Wunden leckt. "They build up their tent here" sagt eine Schaffnerin. Und zwei Reihen weiter sitzt ein famos aussehender junger Mann, der sieht aus wie Richard Gere - eigentlich noch besser. An dem kommt die Schaffnerin einfach nicht vorbei und man kann zugucken, wie Flirten geht.

In Inverness muß man umsteigen. Ein Bahnbeamter fragt, ob das Fahrrad angemeldet sei. "Yes, Sir" sage ich und verschwinde im Gepäckabteil. Und fahre auf das Angenehmste nach Edinburgh. Von dort fährt alle halbe Stunde ein Zug nach London Kings Cross, doch ich will ja nur nach Newcastle, da muß man vorher aussteigen, wie mir der Schaffner erklärt. Als ich lache, weiß er, daß ich seinen Scherz verstanden habe. Natürlich passiert noch etwas, als der übliche Wagen mit Getränken und Snacks durch den Gang rumpelt. Ein gegenüber sitzender Herr wünscht ein Getränk, worauf sich der Wagenschieber fuchtelnd in die Tiefen seiner Vorräte versenkt. Und da gibt es einen Knall, eine Coaldose mit klebrigem Inhalt ist hochgegangen, woraufhin sich der gegenüber sitzende Herr mit triefenden Händen und befleckter Kleidung zur Toilette begeben muß. "I never had that" sagt der Wagenschieber.

Na ja, ich steige in Newcastle aus, da ist die Touristeninformation gleich am Bahnhof. Wo ich denn nun ein Ticket für das Schiff nach Hamburg bekommen könnte, will ich wissen. Wenig weiter sei ein Reisebüro, Thomas Cook, da ginge das. Und einen Stadtplan mit Unterkunftmöglichkeiten bekomme ich auch noch. Da stehen leider nur schwindelerregende Preise zur Auswahl. Also erst mal in das Thomas Cook Büro. Da weiß man von nichts. Es bedient mich allerdings eine junge hübsche Dame, die noch in der Lehre tätig ist. Ein paar Kollegen müssen ihr zu Hilfe kommen, und man klärt zunächst, daß an besagtem Tag das Schiff nicht verkehrt, sondern einen Tag später, das wäre der Mittwoch. Irgendwie habe ich mir diese Rückfahrt auf See in den Kopf gesetzt, an Kosten spare ich auch nicht - und wenn man das nicht tut - gelingt einem alles auf der Welt. Auch nicht so gut, sowas.

Nach einigen Telefonaten mit der Reederei, Ausfüllen von diversen Formularen, Abbuchen, Quittieren, Passport - Registrierung und so weiter, mein Lehrling hat schon ganz rote Backen, ist die Prozedur endlich abgeschlossen. Mit "This was a good lesson for you" verabschiede ich mich, um einen guten Betrag ärmer, aber mit einem wohlwollenden Lächeln bedacht. Nun gilt es ein Quartier zu finden, sowie einen Tag in Newcastle zu gestalten, da ist man ja auch nicht darauf vorbereitet.

So langsam bin ich es leid, immer nur von meinem Glück zu berichten, aber ich habe es einfach. Nicht weit entfernt von der Universität finde ich in einer Straße, die rein äußerlich nach B&B Möglichkeiten aussehen mag, tatsächlich das Herron's Hotel, 40 Jesmond Road. Bevor ich da rein gehe, blättere ich lieber noch mal in dem Quartierverzeichnis, was das denn hier kosten mag. Aber Herron's Hotel ist nicht aufgeführt. Da geht die Tür auf und es heißt in harschem Ton: "I don't want you here with your bike". Das ist Dave, und er lacht. Zwei Minuten später sitze ich mit ihm in der Laundry bei einem Kaffee. Dave ist eine Plaudertasche, auf der ganzen Tour mußte ich nicht soviel Konversation machen. Wir kommen sogar ins Politische, Europäische Gemeinschaft und so. Logo, daß ich mein Zimmer bekomme, bei der zentralen Lage, sogar in einem Haus aus der Georgian Period, zu einem annehmbaren Preis (21 L).

Mein Rundgang hat hauptsächlich das Ziel, ein gutes Restaurant aufzusuchen, Ihr wißt schon was. Und nun finde ich genau das Richtige für den hungrigen Reisenden. "Charlie's Chinese Buffet", wo man so viel essen kann, wie man will. Ein Zeitungsartikel über diese Angelegenheit ist am Schaufenster ausgehängt.

Nun bleibt noch Zeit, sich Newcastle anzusehen. Dafür habe ich einen Stadtplan. Einen Touristen erkennt man, wenn schon nicht an der Kleidung, daran, daß er abwechselnd in die Runde nach den Straßennamen und in seinen Stadtplan schaut. Eine hübsche Asiatin fragt mich teilnahmsvoll "Are you lost?" Leider reagiere ich nicht richtig, anstatt mir liebevoll aus der Patsche helfen zu lassen, sage ich "No, everything OK". Ich trolle mich hinunter an den River Tyne. Da kann man eine Menge Brücken bewundern, sechs hintereinander. Die erste ist die größte, sie soll, wie mir Dave erzählt, ein Prototyp für eine Brücke in Sydney sein. In Antiquitätengeschäften kann man gelegentlich Fotos aus der Bauzeit der Brücke sehen. Daneben ist die dagegen winzig erscheinende älteste Brücke, eine Drehbrücke. Dann folgt die Metro-Brücke, die Eisenbahnbrücke und noch zwei Straßenbrücken. Damit sind die beiden Flußseiten in N ewcastle gut miteinander vernetzt.

Die Stadt bietet sonst das übliche, was in jeder Großstadt anzutreffen ist. Im Moment scheint gerade Rush-Hour für die abendlichen Vergnügungsausgänge zu sein. Wieder Scharen von leicht bekleideten Mädchen, frieren tun die hier wohl nicht. Zurück in meinem Zimmer plane ich für den morgigen Tag. Anstatt mir irgend welche Museen anzusehen fahre ich lieber an die Küste, mal sehen, was dort zu sehen gibt.

Dienstag/Mittwoch: Tynemouth, Whitley Bay, Earsdon, Heimreise
63/33 km, 2031 km total

Das ist ganz was neues: ohne Gepäck und Ziel losfahren. Ein Ziel habe ich allerdings, als vorsichtiger Mensch will ich die Anfahrt zum Ableger des morgigen Schiffes erkunden. Was man mir im Reisebüro erzählt hat: mit dem Fahrrad käme man da gar nicht hin, am besten ginge es mit der Metro oder dem Shuttle Bus vom Bahnhof. Das ist alles Unsinn. In der Metro darf man keine "Fahrräder und andere sperrige Güter" mitnehmen. Mit dem Shuttle Bus dürfte das noch schwieriger sein, das sind nämlich die guten alten Doppeldecker. Und wenn man die ca. 10 Meilen mit dem Fahrrad rausfahren will, gibt es dafür den "Hadrians Weg" immer am Fluß entlang. Auf dem fahre ich nun und mache allerhand Entdeckungen.

Der Name Hadrian kommt hier an jeder Ecke vor. Der römische Imperator Hadrian ließ in der Zeit um 150 n.Chr. als nördliche Grenze des römischen Reiches gegen die "Barbaren" ein Bauwerk errichten, das unter dem Namen Hadrianswall bekannt ist. Nähere Informationen unter www.... Immerhin komme ich einmal an den Resten einer römischen Anlage vorbei, im übrigen wimmelt es hier davon.

Es geht raus nach Tyne Mouth, auf dem Wege treffe ich immer mehr Radler, die kommen alle von einem Schiff, das gerade aus Amsterdam angekommen ist. Die habe ihre Reise noch vor sich. Als ich an der Schiffsanlegestelle eintreffe, ist schon wieder alles wie ausgestorben, aber ich weiß, wo ich morgen hin muß. Die Fahrt zur Mündung des Tyne ist wunderschön. Hie endet eine C2C (Coast to Coast) Route am äußeren Ende der Flußmündung. Dort befindet sich auch die Ruine einer ehemaligen Befestigungsanlage. Als ich eine kleine Steigung rauf fahren will, reißt nun endlich auch der rechte Schaltzug ab, das ist mir jetzt ziemlich egal.

Mit der Whitley Bay trifft man auf einen wunderschönen Teil der Küste. Das Juwel ist St. Mary's Island, ein paar Häuser und ein Leuchtturm auf einer vorgelagerten Felsinsel. Bei Ebbe kann man trockenen Fußes hinüber gehen. Auf der Wiese fällt ein Gedenkstein ins Auge, da steht was interessantes drauf, und da ich heute Zeit habe, schreibe ich das ab. Es handelt sich um Curry's Point:

On 46 th Sept. 1739 Michael Curry was executed for the murder of the landlord of the Three Horseshoes Inn, Hartley.

His body was afterwards hung in chains from a gibbet at this spot, within sight of his crime.

Ever since that gruesome event this headland has been known as Curry's Point

Von hier kann man auf einem schmalen Pfad hart an der Kante der Steilküste weiter radeln. Richtung Norden sind dann die Industrieanlagen von Blyth zu sehen, so daß ich mich in Seaton Sluice landeinwärts wende. Da gibt es die nächste Überraschung, ein richtiges Castle, das heißt Seaton Delaval Hall. Man kann es auch besichtigen, nur heute am Dienstag gerade nicht. Dafür befindet sich hinter dem Schloß die Kirche Church of our Lady, die auf das Jahr 1102 datiert ist. Ich finde eine lustige(!) Grabinschrift, und weil ich nun mal beim Abschreiben bin, soll auch diese mitgeteilt werden:

Farewell my wife and children dear,

I am not dead but sleeping here,

prepare for death for die you must,

and with your husband sleep in the dust.

1921 aged 77 Thomas,

1928 aged 79 Margaret Ann Trewick.

Ich komme dann in den Ort Earsdon, dessen deutsche Partnerstadt ist Oer-Erkenschwick. Da gibt es auch wieder etwas zu entdecken. Es gab in dieser Gegend früher eine oder mehrere Kohlegruben, da hat man einen Lehrpfad (Countryside Trail) angelegt, der die Spuren aus jener Zeit aufzeigt, nicht zu übersehen ist natürlich die alte Abraumhalde. Auf dem Friedhof steht ein großes Monument, der Hinweis darauf lautet:

In 1862 204 miners lost their lifes at Hartley colliery in a way which haunts the imagination like a nightmare - by burial alive.

Auf dem Monument steht über die Unglücksursache nur etwas von "Broken Engine Beam. Das heißt so viel wie Bruch der Maschinenwelle, aber daraus läßt sich keine Erklärung ableiten. Wenn man die vielen Namen und Alterszahlen der Verunglückten liest, ist man schon erschüttert, die meisten waren 20-30 Jahre alt.

Nachtrag: Wenn man im Internet nach "Hartley colliery" sucht, gibt es eine Menge Hinweise auf diese Katastrophe. Die herabstürzende Welle hat die gesamte Schachtverkleidung mit in die Tiefe gerissen und den Schachtzugang für die Bergarbeiter durch einen meterhohen Berg von Trümmergewirr unzugänglich gemacht. Erst nach einer Woche konnten Retter zu den Eingeschlossenen vordringen. Diese wurden unverletzt aufgefunden, doch waren inzwischen alle an Sauerstoffmangel oder giftigen Gasen gestorben.

Auf der Weiterfahrt treffe ich ein holländisches Radlerpaar, die sind auch wieder auf einer ausgearbeiteten Route unterwegs. Es gibt in der Reihe ... Kettler das Buch "England per Rad". In diesem sind nicht mit einem Wort die C2C und National Cycle Routes erwähnt, obwohl gerade das zum Radfahren in England eine wichtige Information wäre.

Die Rückfahrt bis in das Zentrum von Newcastle ist wegen des dichten Verkehrs weniger erbauend. Am Abend sieht man mich bei Charly am Buffet, aber eins ist klar: chinesisch gegessen wird die nächsten Wochen nicht mehr.

Am nächsten Morgen beginnt die Heimreise mit der Anfahrt zum Schiff, wofür ich bis 15 Uhr Zeit habe. Nachdem ich mich von Dave verabschiedet habe, fahre ich wieder zu den Brücken hinunter und quere den River Tyne über die alte Drehbrücke. Hier auf der anderen Seite fährt man nacheinander auf einem "Keelman's Way", einer C2C-Route und einem "River Don Cycle Way". Dieser River ist ein matschiges Rinnsal. Ich gerate an eine Brücke, da freuen sich ein paar Bauarbeiter über die Abwechslung durch einen Radfahrer. "This is a bridge to nowhere" heißt es. Das liegt daran, daß hier eigentlich gar kein Weg ist, die Brücke wird nur aufgrund ihrer historischen Bedeutung restauriert. Wenig weiter ist eine ganz ordinäre Straßenbrücke.

Man kann nun wieder auf die nördliche Tyne-Seite hinüber wechseln, wenn man den Tunnel benutzt, der auch für Radfahrer und Fußgänger zugänglich ist. Lohnender ist es, sich den Ort South Shields anzusehen. An einem Denkmal kann man wieder Studien treiben. Im Jahre 1789 sank vor der Tyne Mündung die Brig Adventure und 8 Seeleute ertranken. Vom Ufer hat man alles mit angesehen aber helfen konnte keiner. Da haben zwei Männer die Ärmel aufgekrempelt und wenige Jahre später trug das erste erfolgreiche Rettungsboot der Welt den Namen "Tyne" (ähnliche Geschichten kennt man auch bei uns in Deutschland von Amrum oder Borkum).

Nach dem Bummel durch die Einkaufsstraßen und über den Markt begebe ich mich auf die Fähre, die heißt "Earl of Zetland". Nach Übersetzen des Tyne befindet man sich in North Shields, und genau da fährt am Nachmittag die "Princess of Scandinavia" mit mir und dem Rad (aber auch noch anderen) zurück nach Hamburg. Als die englische Küste und die Sonne versinken nehme ich Abschied von einer Reise.

P.S.

Eines muß ich noch erzählen, damit die Geschichte rund ist. Am Donnerstag komme ich gegen 19 Uhr gesund und unbeschädigt auf dem Braunschweiger Hauptbahnhof an. Und da fliegt es heran und wir liegen uns in den Armen und heulen. Weich ist das Holz, aus dem wir geschnitzt sind.