24.2. Der Brocken

Nach sechs Wochen DDR-Abstinenz hat das Wetter mit einem eher dem Mai als dem Februar entsprechenden Klima in den vergangenen Tagen uns wieder unternehmungslustig gemacht. Eine Woche zuvor lag noch Schnee im Harz, das einzige Mal in diesem Winter. Inzwischen ist es so warm gewesen, daß wohl kaum etwas davon übrig geblieben ist. Meine Absicht, "DIE" Brockenbesteigung erstmals auf Ski oder mit dem Fahrrad durchzuführen, wird aufgegeben, weil Stefanie bei einer Besteigung auf Schusters Rappen mitkommen will - um mir einen Gefallen zu tun - ich dagegen nehme sie mit, um ihr einen Gefallen zu tun. Für den Rest der Familie sind andere Werte wichtiger.

So starten wir nach dem Frühstück mit dem Auto bei schönem Sonnenschein. Leider ist es im Gegensatz zu den vergangenen Tagen viel dunstiger, so bekommen wir den Harz und unser alles überragende Ziel erst in der Höhe von Vienenburg zu Gesicht. Hier nehmen wir den Grenzübergang nach Lüttgenrode, mit etwa 15 Minuten Wartezeit sind wir gut bedient. Auf Straßen, die ich nun sogar schon vom Radfahren kenne, geht es nach Wernigerode. Es löst bei mir große Verwunderung aus, daß der Verkehr nur spärlich ist, bei meiner notorischen Angst vor Autodrängelei hatte ich angesichts des Wetters mit dem schlimmsten gerechnet. "Nun mecker doch nicht immer" sagt Stefanie, als ich immer wieder den Kopf schüttele. So geht es relativ einsam die Straße hinauf über Drei Annen Hohne nach Schierke - ab und zu nur "hetzt" uns ein Trabbi. Wieder ist das erstmalige Befahren einer Ostharzstrecke ein beeindruckendes Erlebnis.

Am Ortseingang von Schierke muß ich nun wieder nach Gefühl fahren, da man sich hier noch nicht auskennt. Wir halten uns links, überqueren eine Brücke und finden sogleich einen Parkplatz an dem Fahrweg, wo der Aufstieg zum Brocken schon ausgeschildert ist. Nachdem in den letzten Wochenenden der Verkehr im Raum Schierke regelmäßig zusammenbrach, bin ich wieder baß erstaunt darüber. Wir packen alles für den Weg in den Rucksack und machen uns froher Dinge auf den Weg. Gleich darauf begegnet uns jemand in einem "Offroader", den ich aus Braunschweig kenne, solche Leuten nennt man wohl "Yuppi": "hab ich Geld, gehört mir die Welt". Uns gehört die Welt genauso, in bester Laune ziehen wir weiter. Am Wegesrand sehen wir zahlreiche kräftige Triebe einer seltsamen Pflanze, deren Bestimmung steht noch aus (Pestwurz). Parallel zur Ortsdurchfahrt von Schierke führt der Weg zuerst zu einem großen Parkplatz, wo wohl die Mehrzahl der Brockenbesucher das Auto abstellt. Es sind fast mehr DDR-Fahrzeuge als Westkarossen auszumachen. Wir gehen einmal so durch, wo die Leute alle herkommen mögen: Halle, Leipzig, Magdeburg und Hannover, Kassel, Braunschweig. Eine echte deutsch - deutsche Veranstaltung liegt vor uns.

Hinter dem Parkplatz geht es auf einem hübschen Weg an einer Schneise entlang, hier liegen schon viele Granitblöcke herum. Auf Schautafeln kann man Kenntnisse über Geologie, Fauna und Flora erwerben. Man quert dann wieder den Bach - die warme Bode - und befindet sich zwischen einigen komfortabel wirkenden Erholungsdomizilen am brockenseitigen Ortsausgang von Schierke. Aber es gibt auch Wohnblocks, die hier reinpassen wie die Faust aufs Auge. Der aufragende Schornstein eines Heizwerks sorgt für die Qualität des Luftkurortes.

Nun beginnt der eigentliche Anstieg, entsprechend strömen die wanderwütigen Massen sternförmig auf diesen Punkt zu. Es sind wenig mehr als 10 km bis zum Gipfel des Brockens. Links geht die Fahrstraße ab, rechts hinauf über einen etwas matschigen Weg (Rodelbahn) gelangt man auf die alte Bobbahn, auf der der Weg weiterführt. Bis in die 50er Jahre hat man die Bobbahn noch für Rennen benutzt, mit bis 100 km/h ist man damals schon hinuntergebrettert. Wir haben die Jacken längst im Rucksack verstaut und können uns den Weg als Rodelbahn trotz der gelegentlichen Schneereste schlecht vorstellen.

Man kommt an eine Schutzhütte und kreuzt erstmals die Trasse der Brockenbahn. Wie man an den verrosteten Schienen sieht, sind sie noch nicht wieder benutzbar. Es gelingt nicht, zu rekapitulieren wann hier das letzte Mal regulärer Betrieb herrschte, vielleicht war das noch vor dem Krieg - das müssen wir noch in Erfahrung bringen.

Nun geht es durch den Wald weiter hinauf, vor und hinter uns ein unabsehbarer Strom von Menschen. Am Dialekt erkennt man meist, ob von hüben oder drüben. Gespräche mit Mitwanderern kommen leider nicht auf, vielleicht suchen wir sie auch nicht. Als man das nächste Mal die Bahnstrecke quert, vereinigt sich der Wanderweg mit der Fahrstraße. Das ist zwar weniger romantisch weil auf geteerter Straße, doch ist der Bereich um den Brocken nach den Jahrzehnten der Abgeschiedenheit ein äußerst schützenswertes Refugium für Tiere und Pflanzen. So sind die abzweigenden Wege mit Recht durch quergelegte Baumstangen gesperrt. Ab und zu weisen Schilder an den Bäumen den angrenzenden Wald als Naturschutzgebiet aus, das Verlassen des Weges ist natürlich verboten. Je weiter man nach oben kommt, desto urwüchsiger wird der Wald, umgestürzte Bäume liegen am Boden, noch stehende Baumleichen strecken ihre verdorrten Arme bizarr in die Luft. Andererseits sieht es hier gar nicht so nach systematischem Waldsterben aus wie etwa am Wurmberg gleich gegenüber. Womöglich liegt das daran, daß hier robustere Fichten zu Hause sind, die sich kaum zur holzwirtschaftlichen Nutzung eignen. Immer wieder kann man bewundern, wie sich die Wurzeln der Bäume um die Granitblöcke krallen, auf denen sie ihren kargen Standplatz gewählt haben.

So langsam nähern wir uns mitsamt der Karawane dem Gipfel, den man auf dem ganzen Weg bisher nicht zu Gesicht bekommen hat. Endlich ist es soweit, rechts voraus sieht man die Gebäude und den rot-weiß geringelten Sendeturm. Gleich verschwinden diese aber wieder hinter Bäumen, und dann gelangen wir wieder an die Brockenbahn und gleich dahinter die deutsche Mauer aus Qualitätsbeton.

Hier hat noch kein Mauerspecht daran genagt, unversehrt wie eh und je schützt sie hier die Gipfelregion des Brockens vor den allgegenwärtigen Übergriffen. So unschön dieser Anblick heute ist, so kann man wohl doch erwarten, daß dieses Bau-Weltwunder in den nächsten Jahren verschwindet. Also schön fotografieren für die Enkel.

"Immer an der Wand lang" geht es das letzte Stück der Brockenzufahrt hinauf. Dann öffnet sich die Lücke, hier haben noch im vergangenen Jahr (3. Dez.) einige Unentwegte den Zugang zum Brockengipfel mit Sprechchören ("freie Bürger, freier Brocken") "erkämpft" - schade, daß man nicht dabei war. Zwischen Wachttürmen hindurch betritt man nun das Allerheiligste. Links liegt der Brockenbahnhof, mit roter Schrift Steht "BROCKEN" an dem Gebäude, damit jeder weiß, wo er ist. Ob das nicht vor kurzer Zeit noch der Geheimhaltung unterlag? Heute hat sich hier ein Imbißstand einquartiert, eine Menschenschlange wartet auf Atzung, Cola und Fanta sind aber schon durchgestrichen, doch Bockwurst gibt es noch. Das Innere des Bahnhofsgebäudes ist triste, oberhalb einer Treppe findet sich ein weiterer Imbiß. Wir haben Käsebrötchen im Gepäck und ziehen weiter, um uns einen windgeschützten Rastplatz zu suchen.

Rechts liegt ein weiteres Gebäude, mit Scheinwerfern bestückt und mit einem Zusatzzaun gesichert, so eine Art Aller-aller-heiligstes. Sicher bisher eine wichtiger Stützpunkt in Sachen Ost-West-Auseinandersetzung, inzwischen hat sich das wohl verlagert. Links oben die beiden Gebäude, die wir von zu Hause mit bloßem Auge erkennen können: ein großes Gebäude, rundum verschalt und verwettert sowie der auf drei Stelzen technisch imposante Sendeturm.

Dahinter hausen die Russen. Ein wirklich malerischer Stacheldrahtzaun versinnbildlicht die eigentliche Lächerlichkeit ihres Tuns. Zwei Russen gehen mit umgehängten Gewehren ihre Wache ab, alle haben Pelzmützen auf. Ich traue mich natürlich nicht, ein Foto zu machen, außerdem ist der Film alle, es waren nur 8 Bilder drauf. Eine verfallene Halle rundet den feinen Eindruck des Domizils ab. Dabei nichts gegen die Russen, die Soldaten selbst können sowieso nichts dafür. Sehen wir doch auch den Bezug zum Westen, wo nach wie vor und weiterhin Milliardengeschäfte in der Rüstung getätigt werden (z.B. Jäger 90,...).

Nun aber erstmal eine Rast, hinter einer Gebäudeecke windgeschützt und im Sonnenschein genießen wir die Stimmung, Stefanie zählt die Marienkäfer, die sonderbarerweise äußerst zahlreich mitten im Winter auf dem Gipfel des höchsten norddeutschen Berges anzutreffen sind. Danach erst bemühen wir uns um die Aussicht. Gegenüber der Wurmberg wirkt annähernd gleich hoch, vom südlichen Harzvorland oder gar Kyffhäuser usw. ist wegen des Dunstes nichts zu erkennen. Auch bis Braunschweig reicht der Blick nicht, direkt unten sieht man aber Ilsenburg, den Ortsrand von Wernigerode und weiter hinten Blankenburg. Harrli, Gr. Fallstein und Huy sind gut zu sehen.

Ein weiteres Tor in der Mauer entdecken wir an der Nordseite, von dort führt eine Mauer am Nordhang hinunter fast wie in China. Wir gehen weiter, bestaunen das Bauwerk des Sendemastes aus nächster Nähe und dann eine Gruppe von fidelen Wanderern, die unter großem Hallo Liegestütze machen. Natürlich wird alles auf Video gebannt, vielleicht macht man die sportliche Übung nur deswegen. Den Filmenden erkenne ich, es ist ein Professor aus Braunschweig. Dann sind wir wieder am Bahnhof Brocken, hier steht jetzt eine Schlange nach kostenlos ausgeschenktem Tee an. Stefanie schaut dabei zu, während ich mich hinten anstelle. Stefanie hat wohl beim Zugucken die Hand zu weit ausgestreckt, denn plötzlich kommt sie mit einem gefüllten Becher angewackelt. Was soll man da machen, wir teilen uns den Tee und machen uns dann wieder auf den Rückweg.

Nun bläst der Wind uns ordentlich ins Gesicht, nach etwa 1 km nach der Kurve aber erreicht man den Wald, wo man vor dem Wind geschützt ist. Der Weg ist gerappelt voll, Menschen, Hunde, Kinderwagen, Radfahrer bahnen sich ihren Weg. Da trifft sich gut, daß eine unauffällige aber beschilderte Abzweigung in Richtung "Eckerloch" uns von dem Hauptweg weglockt. Nun kann man munter über Granitblöcke hinabspringen. Teilweise zwischen matschigen Wasserlöchern und Rinnsalen gilt es, gut aufzupassen, sonst liegt man lang. Aber alles geht gut, man muß sich hin und wieder Zeit nehmen, um die urwüchsige Waldvegatation ringsherum aufzunehmen. Umgestürzte Bäume in allen Stadien des Zerfalls schaffen einen urwaldartigen Eindruck.

Schließlich gelangen wir in das Eckerloch, ein freier Platz am Grunde eines kleinen Tals. Ein paar abgetragene Fundamente zeigen an, daß hier mal Häuser gestanden haben (Skihütten). Jetzt führt ein Forstweg bergab Richtung Schierke, bald gesellt sich parallel dazu die Eisenbahn hinzu. Wir wechseln über und fahren nun Eisenbahn. Auf den Schwellen läßt sich gut laufen, gleichzeitig kann man deren Zustand nach den langen Jahren studieren. Es sieht nicht so aus, als daß die Bahn in Kürze wieder fahren könnte, denn die meisten Schwellen machen einen verrotteten Eindruck. Hier sitzen besonders viele Marienkäfer auf den Schienen, oft in Pulks von über ..zig Exemplaren.

Am oberen Ende der Bobbahn stoßen wir wieder auf die Ameisenstraße der Brockenbesucher. In kurzer Zeit ist man wieder unten in Schierke. Jetzt haben ein paar Einwohner am Ortsausgang einen Verkaufsstand mit Bratwurstgrill aufgebaut. Der Zuspruch ist so rege, daß man schon wieder anstehen muß. Mit einer Bratwurst und einem Becher Bitter-Tonic beschließen wir die Brockenbesteigung.

Auf dem Rückweg zum Parkplatz gehen wir die Straße durch den Ort. Es ist alles gut gepflegt, manche Ferienheime wirken ähnlich vornehm wie bei uns. Viele Häuser sind noch im alten Harzer Stil erhalten. Wir werfen noch einen kurzen Blick in die Kirche. Sie ist einfach und schlicht eingerichtet. Am sehenswertesten ist der Ofen. Neben der Kirche stehen viele Kreuze im Gras, das ist eine Gedenkstätte für die Gefallenen des Ortes in den letzten Kriegen. Auf einem Gedenkstein ist groß eingemeißelt: HELDEN. Darf man zweifeln? Ich würde lieber das Wort: OPFER dahinsetzen.

Am Auto angekommen wird die Rückfahrt geplant. Um wieder was neues kennenzulernen, wollen wir nach Süden aus dem Harz herausfahren. Mich reizt es auch, durch Nordhausen zu fahren, das ich nach Weihnachten nur im Nebel genießen durfte. Erstmal geht es wieder nach Elend, das kennen wir nun schon gut. Dann fahren wir auf der auch schon bekannten Straße an der Talsperre Mandelholz entlang, so kann ich den genauen Namen des Cafes ermitteln, wo wir Kaffee getrunken haben: "Grüne Tannen". In Königshütte zweigt die Straße nach Tanne ab. Sie führt durch das reizvolle Tal der warmen Bode, die ungestört durch die Wiesen plätschert. Um diese Landschaft voll genießen zu können, muß man sie erwandern oder zumindest mit dem Fahrrad durchfahren. Da wenig Verkehr herrscht, kann man gut bummeln, außer ein Trabbi setzt wieder zur Hatz an.

Von Tanne geht es durch den Wald nach Trautenstein. Hier ist eine Sehenswürdigkeit zu bestaunen: wie ein Ringelwurm schlängelt sich ein Bach - wohl die Rappbode - durch eine Wiese. Sowas gibt es bei uns nicht, da hätte die Flurbereinigung längst zugeschlagen und alles begradigt. Von Trautenstein Richtung Hasselfelde, kurz vorher geht es auf der B 81 rechts ab nach Nordhausen. Diese Strecke führt durch ein enges und waldbestandenes Tal. Die Straße ist so von Bäumen überwachsen, daß es im Sommer geradezu dunkel sein muß. Der Ort Ilfeld liegt bereits am Harzrand, im Vorbeifahren sehen wir ein Schloß. Schließlich sind wir in Nordhausen und ich biege in Richtung Innenstadt ab. Wir kommen durch eine große Einkaufsstraße mit den üblichen Wohnblocks, um die Altstadt fahre ich jedoch immer nur herum und lande wieder auf der Hauptstraße Richtung Worbis. Es dämmert auch schon, da machen wir uns lieber an den Rest des Heimwegs. Am Übergang Mackenrode / Nüxei fahren wir über die Grenze.


Zurück zur Kapitelseite