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Harzüberquerung 9.9.

"Mit der Öffnung der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten war es möglich, ..." so beginnt das Grußwort der Veranstalter zu der diesjährigen 18. Harzdurchquerung. In einem Zeitungsbericht wird angekündigt, daß man in diesem Jahr mit 4000 West- und 1000 DDR- Teilnehmern rechnet, die Route wird erstmals großteils auf DDR-Gebiet verlaufen, außerdem soll nach einigem Hin und Her die Strecke auch über den Brocken führen, aber das bleibt zunächst noch ungewiß.

Als bewährte Harzquerläufer wollen Thomas und ich uns das nicht entgehen lassen. Udo - Mitarbeiter im Kindergarten - gesellt sich auch noch dazu. Weil er einen nagelneuen VW-Bus besitzt, darf er die Fahrt übernehmen. Wir fahren um 5.30 Uhr los, es ist noch dunkel. Thomas läd sein Rad mit ein, falls er nach dem 42 km Marsch noch mit dem Rad nach Hause fahren möchte - der hat Nerven. Wie gewohnt zur Rennbahn in Harzburg, Thomas kennt eine Abkürzung, dadurch verfahren wir uns ordentlich. Diesmal sitze ich schuldlos und feixend auf der Rückbank. An der Rennbahn ein Schild: Start der Busse am Parkplatz an der Seilbahn in Harzburg. Also dorthin - schon ist eine halbe Stunde, die wir hätten länger schlafen können, dahingegangen. Wir melden uns an und legen für uns drei zusammen DM 96.- auf den Tresen, ein paar Scherze wegen Ostgeld und so helfen da wenig drüber hinweg.

Nun kosten wir die gut bezahlte Organisation gleich ordentlich aus, indem wir mit einigen hundert anderen Ungeduldigen eine knappe Stunde auf den nächsten Bus warten. Man kann ein wenig mit den Leidensgenosen plaudern. Ein Bus aus dem Lipper Land entläßt eine Schar, die sich durch einheitliche Trainingsanzüge als LG (LaufGemeinschaft ?) Detmold kenntlich gemacht hat. Auch diese Sportskameraden stellen sich brav in die Warteschlange, obwohl sie ja über einen Bus verfügen. Wahrscheinlich ist der nur bis hier gechartert. Mittlerweile kringelt sich die Menschenmenge um das Gebäude der Seilbahnstation herum. Der Unmut wächst allmählich an, eine Dame geht schließlich mutig an den maulenden Wanderstiefeln, Bundhosen, Tirolerhüten oder neonfarbenen Sportanzügen entlang und gibt einen knappen Lagebericht. Die erste Welle der 21 Busse ist im frühen Morgengrauen abgerauscht, für die Hinfahrt nach Rothesütte, wo sich der Start befindet, werden 45 Minuten veranschlagt, die Rückfahrt der Busse dagegen mit mehr als einer Stunde, weil das über Nebenstraßen nur auf Umwegen geht. Wir rechnen aus, daß wir womöglich durchaus noch eine weitere halbe Stunde zu warten hätten, aber dann erscheint doch endlich ein Bus. Die vor uns stehenden Leute steigen ein, für uns reicht es wohl nicht mehr. Da stellt sich heraus, daß viele einen Stehplatz verschmähen und lieber auf den nächsten Bus warten. So sind wir - schwupp - an diesen Obersportlern vorbei in den Bus geschlüpft.

Endlich geht es nun los, auf bekannten Straßen über Torfhaus, Braunlage und Hohegeiß. An Benneckenstein vorbei - mittlerweile auf DDR-Gebiet - können wir gegen 8.15 in Rothesütte aussteigen. Hier herrscht gähnende Leere, der erste Schwung ist schon lange unterwegs, den Beginn des zweiten Hümpels bilden wir. Das hat den Vorteil, daß vor uns freie Bahn ist, und wenn man zügig geht, behält man auch den Rücken frei. In diesem Sinne holen wir uns den Startstempel und machen uns auf die Strecke. Nach dem etwas enttäuschenden Tagesbeginn genießen wir nun erstmal die frische Luft, auf schönen Wegen geht es durch den Wald und man ist ungemein energiegeladen. Wenn es bergab geht, wird ein leichter Trab eingeschlagen, so lassen wir bald das kriechende Volk hinter uns. Natürlich gibt es auch ganz Forsche im "Asketen-Look", Stirnband und sehnige Waden, die laufen in gleichmäßigem Tempo immer so vor sich hin. Wir kommen auch so ins Transpirieren, wenn es entsprechend bergauf geht.

Vor Benneckenstein passieren wir eine Art Waldbühne, da spielt ein Blasorchester flotte Weisen. Man hat sich wohl von den angesagten 5000 Wanderern einiges versprochen. Diese aber - 5000 werden es auch nicht werden - nehmen wenig Notiz von der Musike, Blick auf den Weg, möglichst gleichmäßigen Atem einhalten, ein strammer Schritt - so strebt man vorwärts. Das ganze ist noch dazu ansteckend. Obwohl man ja selber mal hier mal da gern stöbern würde, hält einen ein unentwegter Vorwärtsdrang in Bewegung. Ein einsamer Getränkeverkäufer mit seinem Kombi auf einer Wegkreuzung guckt auch den Vorbeieilenden fassungslos nach und rechnet wohl schon seinen entgangenen Gewinn zusammen. Vorbei an schwarzweißem Rindvieh erreichen wir über mit Heidekraut bewachsene Trockenwiesen den östlichen Ortsrand von Benneckenstein. Links ein altes uriges Haus, rechts Reste einer Wellblechkonfiguration, der Rest ganz normale in sozialistischer Bauweise errichtete Gebäude, teilweise in jüngerer Zeit auf marktwirtschaftlicher Basis renoviert oder erweitert. Drei Mountainbiker passieren uns, - da hätte man ja auch selbst... - aber nun ist man einmal zu Fuß bei der Sache. Es wird aber viel über das Radfahren, Technik und Unternehmungen diskutiert.

So vergeht die Zeit wie im Fluge, bald sind wir in Tanne an der ersten Kontrollstelle. Es wird Tee gereicht, "echter Ceylon" wird in schönem Harzer Dialekt versichert. Der Tee ist nur lauwarm, weil die wackeren Teekocher sich gedacht haben, man schwitze von heißem Tee nur noch mehr. So quälen wir uns zwei Becher davon hinein, um den Durst zu stillen. Die Wege auf der weiteren Strecke sind sehr schön zu wandern, weicher Untergrund auf einem Teppich aus Tannennadeln. Ein hübsches Wiesental mit einem schlängelnden Bach - da sollte doch gleich die Flurbereinigung... Man hat extra für diesen Tag eine Holzbohlenbrücke erbaut, über die nun die Harzdurchquerer hetzen. So allmählich kommt der Ort Elend in Sicht, es geht mehr am Ort vorbei als hindurch, mal sieht man die kleine Kirche von weitem, ein paar hundert Meter östlich des Bahnhofs steigen wir wieder hinauf. Thomas und Udo sind noch nicht ausgelastet, sie fallen an einer scharfen Steigung in den Laufschritt und hängen mich gründlich ab. Als es wieder bergab geht, hole ich sie bald ein, und wir sind uns nicht ganz einig, ob das Galoppieren so ganz das richtige ist.

Wenig später beginnt Udo leicht zu lahmen, wir erfahren eine Geschichte von seinem Knie, die ein paar Jahre zurückliegt. Inzwischen sind wir am Bahnhof in Schierke angelangt, hier ist die dritte Kontrollstelle. Zwei Becher Brühe tun sehr gut, dazu gibt es noch eine Flasche Brause. Aber hier unmittelbar unter dem Brocken beginnt es prompt kräftig zu nieseln, da müssen die Regenjacken hervorgeholt werden. Wir wandern weiter entlang der Bahnstrecke. Als wir auf die ehemalige Bobbahn stoßen, erkenne ich die Gegend von unserer ersten Brockenbesteigung wieder. Thomas und Udo sind im Winter an dem einzigen Sonntag, wo die Schneeverhältnisse entsprechend waren, über diese Route schon mit Skiern auf dem Brocken gewesen.

Leider ist dieser Aufstieg auf der asphaltierten Brockenstraße gar nicht reizvoll, Udo humpelt zusehends mühsamer bergan, Thomas amüsiert sich weit vorn mit Marathonexperten, die ihm alles über das "An- und Abtrainieren" usw. verklaren. Wir wissen immer noch nicht, ob die Strecke über den Brocken führt, alle offiziellen Ankündigungen beziehen sich auf eine östliche Umgehung des Brockens durch das Ilsetal. Am "Brockenbett" entscheidet sich das, hier ginge es geradeaus in das Tal der Ilse. Aber die Massen wälzen sich links herum, wo es direkt hinauf in den nieseligen Dunst geht. 6 Grad soll es auf dem Gipfel kalt sein, das drückt ein bißchen aufs Gemüt. Wir haben das Glück, daß unversehens die Sonne herauskommt, zwischen den Dunstbänken über den Bäumen bekommt mancher Ausblick so seinen romantischen Flair. "Warum kommt Ihr nicht eher, wenn Ihr die Sonne mitbringt" sagt einer, der - wieder auf dem Abstieg - uns entgegen kommt.

Als wir der ersten Grenzzäune ansichtig werden, überkommt einen die Freude über das nahe Ziel. Von den Grenzanlagen hat man hier noch gar nichts abgebaut, noch immer ist der Gipfel des Brocken von einer Mauer eingefaßt. An deren Eingang wartet Thomas, einen Schokoriegel verzehrend, er hat schon von weitem Udos Gangart studiert. Schnurstracks geht es also auf die Sanitätsstation im Brockenbahnhof. Ein Arzt untersucht das Knie, dann wird es mit "Mobilat" eingeschmiert und bandagiert. Das ganze kostet 5 DM. Eine Möglichkeit, vom Brockengipfel mit dem Fahrzeug transportiert zu werden, gebe es nicht, höchstens "Ausfliegen". Na so weit ist es nun noch nicht, Udo meint, bis zur nächsten Kontrollstelle am Scharfenstein würde es schon gehen.

Zum Abschluß gibt Thomas einen Kaffee bzw. Tee aus, er muß gleich zwei Kaffee ausschlürfen, weil ihn die Bedienung falsch verstanden hat. Diesmal sind die Getränke heiß, sodaß wir ein wenig aufgewärmt wieder hinaus treten. Der Wind ist wie meistens hier oben sehr unangenehm. Die Russen haben sich hinter einer nagelneuen Absperrung verschanzt, niemand ist aber zu sehen. Ob der Zaun gegen Übergriffe von außen oder Überklettern von innen gedacht ist, sei dahingestellt. Außerdem sind die alten Backsteingebäude mittlerweile abgebrochen und beseitigt, das sieht nun insgesamt schon viel ordentlicher aus. Ein Postauto schickt sich gerade an, zurück nach Schierke zu fahren. Da macht Thomas kurzen Prozess, ehe sich Udo besinnen kann, sitzt er neben dem Fahrer, er soll von Schierke aus sich mit dem Bus zurück nach Harzburg durchschlagen.

Die Kontrollkarte nehmen wir mit, damit er wenigstens seine Anerkennungsmedaille bekommt. Für uns zwei "Gesunde": mich plagt der Rücken und der rechte Schuh drückt, Thomas zieht es die Oberschenkel rauf und runter, beginnt der Abstieg auf der Nordseite. Auf den Lochplatten der Grenztrasse geht es hinunter, vorbei an der Bismarckklippe zum Scharfenstein. Die Aussicht ist mäßig, wieder ohne Sonne liegt das Land unter uns grau da. Reizvoller ist der Marsch um einen Teil des Ecker-Stausees. Bei Erreichen der Staumauer fällt mir eine kleine Geschichte ein. Vor zwei Jahren habe ich schon einmal eine Harztour mit dem inzwischen geklauten Kettler-Mountainbike gemacht. Als ich am Abend nach Hause kam, war die Antwort auf die Frage, wo ich gewesen sei: "Ich war in der DDR!" Das war ja nun gar nicht zu glauben - aber es stimmte doch. An diesem Tag hatte die Ecker-Talsperre nämlich Tag der offenen Tür. Da gab es die Sondergenehmigung, die Staumauer - zur Hälfte auf DDR-Gebiet - zu begehen, auch das Innere der Staumauer mit den Kontrollgängen und ein Stück auf dem jenseitigen Ufer der Ecker durfte betreten werden.

"Wer hätte damals gedacht...", so fangen dann immer die weiteren Gedanken an. Es geht nun auf die letzten Kilometer, die einem trotz der etwas stelzigen Gangart dann schließlich wieder etwas leichter fallen. Am Molkenhaus ist die letzte Kontrollstelle, dafür regnet es nun zum Abschluß noch einmal kräftig. Punkt 16 Uhr sind wir wieder in Harzburg, das Ziel ist das "Krodo Bad". Wir nehmen unsere Medaille am Bande entgegen und setzen den Coupon für den Eintopf um. Auch dieser ist nur wegen des momentanen Hungers genießbar, die Erbsen sind verkocht und die Fleischstücken undefinierbar. Es wird per Lautsprecher verkündet, das ca. 2800 Wanderer an der Harzüberquerung teilgenommen haben, damit sind die Erwartungen bei weitem nicht erfüllt worden. Vielleicht müßten die Veranstalter sich bemühen, ein wenig mehr dahingehend zu bieten, daß man ein Einsehen für die stolze Teilnahmegebühr bekommt.

Uns verbleibt noch die Aufgabe, den invaliden Udo aufzuspüren, das Auto ist nicht abgeschlossen, aber das ist ein Versehen vom Morgen. Daß das hochwertige Rennrad von Thomas trotzdem noch vorhanden ist, bewahrt uns vor dem völligen Stimmungszusammenbruch. Wir können wenigstens unsere Klamotten sortieren, teilweise ist man noch durchnäßt. Dann geht es auf die Suche, wir pendeln einige Male zwischen dem Ziel und dem Auto hin und her. Die Nachfrage bei dem Roten Kreuz und der Veranstaltungsleitung bringt nichts. Bei ein paar Fahrern aus Schierke kursiert eine Fama von einem Knieverletzten, den irgendjemand irgendwohin gefahren habe, beides läßt sich nicht präzisieren. Die vom Roten Kreuz wissen noch viel weniger, wozu sie da sind, zum Helfen besteht keine Gelegenheit, nur die Funkgeräte sind pausenlos im Einsatz. Ein Tee steht uns noch zu, der ist noch schlimmer als der echte Ceylon in Tanne.

So tranen wir zwei Stunden in der Gegend herum, bis der Rucksack von Udo im Auto liegt, ihn selbst finden wir dann auch bald in einem entlegenen Teil des Freibades. Wir hören uns voll Spannung seine Geschichte an. Er hat sich in Schierke absetzen lassen und konnte gegen 15 Uhr mit dem Bus nach Elend fahren. Von dort ging es weiter bis an die ehemalige Grenze bei Braunlage. Dort wartete ein Bus, mit dem man nach Braunlage gebracht wird. Gegen 17 Uhr fuhr dann der Bus nach Harzburg, wo es inzwischen 18 Uhr geworden ist. Wir waren zu Fuß ganze zwei Stunden schneller.

Fazit der Unternehmung: keine besonderen Höhe- dagegen durchaus bemerkenswerte Tiefpunkte. Wenigstens hat man mal wieder den 42 km Marsch geschafft. Leider ist die Atmosphäre dieser Harzdurchquerung ihren besonderen Vorzeichen nicht gerecht geworden, aber vielleicht lag das auch am Wetter.


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