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Lötzen

Leicht finden wir nun unsere Adresse, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Pustend steigen wir von den Rädern, da kommt schon lachend der Hausherr, freut sich daß "Gäste gerade weg, schon nächste kommen". Und er war auch schon mal in Braunschweig, hat in Helmstedt und in dem Hotel Forsthaus, Hamburger Str., gearbeitet. Das verbindet gleich. Das Deutsch, daß er sich so angeeignet hat, ist hier sein Kapital. Er ist Taxifahrer, und fährt die Gäste tageweise umher: "Heimatgucken". Auch seine Frau spricht gut Deutsch, so können wir mal ohne Zeichensprache verhandeln.

Also: schönes Haus, schöner Garten, schönes Zimmer, gutes Frühstück, kostet DM 25.- pro Tag und Person. "Wir bleiben 5 Tage", da gibt es nichts zu überlegen. "Telefonieren kein Problem". Noch ein Angebot: "Meine Frau am Sonntag Namenstag, dann alle Wodka trinken". Und dann: "Badestelle nicht weit, wir fahren mit dem Auto".

Wir werden geradezu verwöhnt. Nur den Hund Dora entdecken wir erst spät, weil der vor Angst die ganze Zeit seine Hütte nicht verlassen hat. Das Söhnchen Michael, 4 Jahre, fährt mit zum Baden. Michael ist "Geschenk aus Lettland", dort wurde vor entsprechender Zeit ein Urlaub verlebt, der anscheinend harmonisch verlaufen ist. Bald sitzen wir im Mercedes und lassen uns am Löwentin-See absetzen.

Nebenan ist ein wenig besetzter Campingplatz. Die Wasserqualität ist erträglich, wenn die anderen alle baden, wird es einem selber ja auch nicht schaden. Hier ist die in der Nähe gelegene Molkerei das Problem. Unverständlich, daß man nicht jeglicher Belastung der Seen, die ja das Kapital dieses Gebietes sind, auf der Stelle einen Riegel vorschiebt. Aber was hat man schließlich mit dem Mittelmeer gemacht...

Wenn man sich um die einzelnen Wasserpflanzen herumschlängelt, kann man jedenfalls gut schwimmen, weiter draußen ist das Wasser dann klarer. Nun kommen unsere Isomatten auch einmal als Badeunterlage zum Einsatz, ansonsten haben wir die ganze Zeltausrüstung vergeblich mitgeschleppt. Als die Hitze etwas nachläßt, machen wir uns auf den Weg zurück zum Quartier. An einer Wäscherei liegen Wäschestücke zum Bleichen ausgebreitet auf dem Rasen

Gespannt sind wir auf die weiteren Eindrücke von Lötzen. Dazu fahren wir mit den Rädern zum Marktplatz und stellen sie bei unserem Parkwächter ab. Ein Blick in das Hotel WODNIK. Das Doppelzimmer kostet DM 75.-. Es ist aber alles ausgebucht. Auch hier stehen immer Busse vor dem Haus, heute ein Schwabenbomber aus Ludwigsburg. Dann erstmal zur Kirche. Diese hier ist evangelisch und hat eine lange Geschichte. Ausnahmsweise hat man sich mal die Mühe gemacht, die Schautafeln auch in Deutsch und Englisch zu übersetzen, sodaß alle etwas davon haben.

Angefangen hat es um das Jahr 1000 mit Missionaren bei den Pruzzen. Das Ende der Missionare war meistens der Märtyrertod. Dann kamen die Ritterorden, namentlich die Deutschritter, die waren weniger zimperlich und haben zu Tausenden dahingemäht, was sich ihrem missionarischen Willen entgegensetzte. Dreißigjähriger Krieg, Pestepedemien, Napoleonische Truppen, Besetzung durch Russen, die Weltkriege, das alles hat man hier durchgemacht. So wächst natürlich unser Wissensdurst, in den vorhandenen Buchläden stöbern wir die Regale nach lokalen Informationsquellen durch. Ein Beschreibung der Geschichte um die Wolfsschanze in Deutsch. Die Wolfsschanze liegt nur wenige Kilometer westlich von hier Richtung Rastenburg. Eine andere Sehenswürdigkeit ist die Heilige Linde (Swieta Lipka), eine barocke Wallfahrtskirche südlich von Rastenburg.

Zu Abend essen wir im Mazurka, das ist ein ganz einladendes Restaurant mit einer ordentlichen Speisekarte. Mit den Beilagen hapert es ein wenig, zu den Gerichten gibt es etwas spartanisch meistens nur Kartoffeln. Soße oder Gemüse bekommt man seltener.

Zu Hause müssen wir uns bald auf's Zimmer verziehen, denn nach einem Temperatursturz ist es ganz plötzlich kalt geworden. Mit der Wolfsschanze habe ich erstmal Lektüre. Heidi kramt aus einem Zeitungsstapel zwei Exemplare des Stern von 1990 hervor, da findet man Reportagen über Hugo Egon Balder (Tutti Frutti) und die Terroristen in der DDR.

Fast schlafen wir schon, da klopft es nochmal, unser Georg hat es nicht lassen können und ein Telefongespräch nach Deutschland in Gang gebracht. Annika meldet sich. "Wir sind in Masuren, alles in Ordnung?" Das war's dann schon. Das Gespräch kostet um 8 DM, die Kosten entstehen weniger durch die Dauer des Gesprächs als durch die Vermittlungsgebühren.

Donnerstag, 23.7., Schiffsfahrt Mauersee - Wegorzewo (Angerburg)

Wieder werden wir frühmorgens gegen 5 Uhr von dem diensthabenden Hahn der nachbarlichen Hühnerschar geweckt. Kurz nach 8 Uhr begeben wir uns zum Frühstück, wo wir mit zwei jungen Schwabenmädchen zusammentreffen, die sich auch gestern einquartiert haben. Die beiden sind mit dem Auto unterwegs, auf literarischen Pfaden nach der Lektüre von "Heimatmuseum" von Siegfried Lenz. Wir rätseln alle, wo wir nun jenes dort geschilderte Masuren finden würden: unendliche Wälder, verwunschene glasklare Waldseen, den flimmernden Horizont, den aus der Dickung brechenden Elch usw. (Nach erneuter Lektüre des Buches: die Handlung spielt sich in der Gegend von Lyck = Lucknow ab).

Aber wenn man darüber nachdenkt, manches ist sicher noch da: die endlosen Wälder, die Seen, wenn auch nicht imnmer glasklar. Mit dem Elch ist das schon schwieriger, kommt aber auch nicht so darauf an. Denkt man an die Zeit vor dem Krieg, da gab es hier den Tourismus und die Motorisierung noch nicht, da war alles von der Land- und Waldwirtschaft geprägt. Genauso hat sich bei uns und überall das Bild ja auch gewandelt.

Unter solchen Überlegungen verzehren wir das Frühstück. Jeden Morgen läßt sich Anna, unsere Wirtin, eine Besonderheit aus polnischer Küche einfallen, die dann neben dem übrigen wie Brot, Wurst und Käse serviert wird. Wir erbitten uns Kawa, bekommen auch immer noch ein Glas nach.

Nach dem Frühstück suchen wir das Orbisbüro auf, dort kann man Geld wechseln, die Reiseschecks einlösen, nach Zugverbindungen fragen, Hotelzimmer vorreservieren lassen, sicher auch eine Fahrt zum Hansapark Sierksdorf buchen. Ein Ehepaar aus Hagen versucht verzweifelt, eine Platzkarte für die Rückfahrt zu lösen. Statt der verlangten Fahrkarten sind sie aber nur im Besitz der Platzkarten von der Hinfahrt. Das kommt mir irgendwie bekannt vor (Danzig).

Wir erfragen das Angebot der weissen Flotte, das sind die Ausflugsdampfer. Auf dem Faltblatt steht ein schöner Satz: "Bei kleiner Anwesenheit b. 10 Pers. die Fahrt kann verstopfen". Um 10.30 Uhr soll ein Schiff nach Wegorzewo abfahren. "Noch 5 Minuten bis Buffalo...", in diesem Sinne müssen wir zur Anlegestelle hetzen, um das Schiff noch zu erreichen.

Außer Atem kommen wir am Fahrkartenschalter an, die Abfahrtszeit ist auf 11 Uhr geändert - Entwarnung. So können wir noch in Ruhe die Fahrkarten lösen und uns ein paar schöne Fensterplätze auf dem Aussichtsdeck suchen. Dann strömen sie auch schon, die Menschenmengen. Eine Gruppe von jungen Polen, das sind Baptisten, wie wir heraushören, sowie eine deutsche Reisegruppe aus Holzminden - Elligsen, die wir für einen Kirchenchor halten. Ein deutsches Radfahrerpärchen mit Gepäck hastet um die Ecke, das Mädchen wird zum Fahrkartenschalter geschickt, er trägt inzwischen die Verantwortung, kaut dabei auf den Fingernägeln. Schließlich hievt man die Fahrräder auf das Vorderdeck.

Nach Ablegen des Schiffes singen zuerst die Jugendlichen unter Anleitung eines lustigen Gitarrenspielers ein paar flotte Lieder. "Ach, wenn junge Leute singen, können sie nichts Böses tun" seufzt eine ältere Dame neben uns. Die war wohl sicher noch nie bei einem Fußballspiel mit Hooligans. Die singen nämlich auch manchmal.

Später fallen auch dem Kirchenchor ein paar Weisen ein, "Horch was kommt von draußen rein.." usw. Leider vergessen sie das Lied Ännchen von Tharau... das wäre hier die Faust auf's Auge. Einmal singend, hören sie gar nicht wieder auf, da versiegt schließlich der anfänglich noch gespendete Beifall.

Seefahrt
Inzwischen gleitet draußen die masurische Landschaft vorbei. Wenn man es genau bedenkt, könnte man auch eine Fahrt auf dem Plöner See in der Holsteinischen Schweiz machen, diese Landschaften ähneln sich sehr. Allerdings sind sie auf die gleiche Weise während der Eiszeit entstanden. Die Ufer der Seen sind von der Wasserseite her mit Schilfgürteln bewachsen, Felder oder Wälder schließen sich landseitig an. Von den zahlreichen Seglern sucht sich mancher ein ruhiges Plätzchen in einer Schilfbucht. Auch Paddler in Faltbooten werden passiert, die haben bei dem heutigen Wind ganz schön zu kämpfen.

Das letzte Stück bis Wegorzewo wird der Mauersee als zweitgrößter See der masurischen Seenplatte durchquert. Nach dem Anlegen begibt sich die deutsche Gruppe sogleich in ihren Bus, der auf dem Landweg hergekommen ist. Sie fahren weiter zur Wolfsschanze, wie man hört. Wir unterhalten uns kurz mit den Radfahrern, die wollen in Richtung Danzig weiter. Ihr bisheriger Weg mehr in der Nähe der russischen Grenze sei wegen der Einsamkeit am schönsten gewesen.

Wir haben zwei Stunden Zeit für eine Ortsbesichtigung. Ein baumbestandener Platz, einige Geschäfte, die Kirche. Die Jahreszahlen 989 - 1989 lassen auf ein 1000-jähriges Jubiläeum schließen, das hat man schnell ausgerechnet. Angerburg ist 1945 umkämpft worden, während Lötzen kampflos eingenommen wurde.

Angerburg
In Angerburg geht es etwas beschaulicher zu als in unserem Lötzen. Nach der Kirchenbesichtigung suchen wir ein Grillokal auf: "Rozen", das hat was mit gebratenen Hähnchen zu tun, die wir dann mit bloßen Fingern verzehren. Auch die beiden Radfahrer tauchen bald an diesem zentralen Ort auf und verköstigen sich.

Die 2 1/2 Stunden Rückfahrt sind langweiliger, das Schiff ist fast leer, weil die beiden Gruppen nicht mit zurückfahren. Unten im Schiff verkonsumieren Fahrgäste und Mitglieder der Besatzung einträchtig Hochprozentiges. Das Wetter ist gemischt, die Sonne hat sich hinter Wolken verzogen.

So passiert heute nicht mehr viel, gegessen wird im Hotel WODNIK. Vor dem Hotel steht ein neuer Bus, der kommt aus Solingen. Eine Gruppe von Bagwan Anhängern zieht singend durch die Straßen. "Hare Krishna...".

Während wir beim Essen sitzen, erscheinen die Insassen der Busladung, es wird Sekt gereicht, sie belegen einen ganzen Saal und werden bevorzugt bedient. Da ist man als Individualreisender immer sauer.

Die beiden Schwäbinnen bieten uns für den morgigen Tag an, eine gemeinsame Autotour zu machen. Spät am Abend taucht ein neuer Gast in unserer Pension auf, den sehen wir zunächst nur kurz.

Freitag, 24.7., Autofahrt Steinort - Rastenburg - Heilige Linde

Beim Frühstück sind wir mittlerweile zu fünft, der neue Gast kommt aus Oberhausen, er begleitet Mutter (84) und Bruder, die mit dem Bus gekommen sind und im Hotel wohnen. Er selbst ist mit dem Auto da, auf der Autobahn fahre er immer 160 km/h, läßt er wissen. Man stamme aus Goldap, da sei seine Mutter immer ganz aufgeregt, die war in ihrer Jugend Leistungsschwimmerin und ist dann durch den See geschwommen. Heute ginge das nicht mehr, mit ihren 84 Jahren. Das Wahrzeichen von Goldap sei der Wasserturm...

So erfahren wir allerhand Wissenswertes. Bei uns anderen vieren hat unser Mann seinen Spitznamen weg: "Der Heimatguck".

Dann fahren wir mit dem Auto (Nissan Micra) los, Heidi und ich bequem auf dem Rücksitz, die Karte auf den Knien. Erst geht es an der Ostseite des Darginsees entlang. Kleinere Seen blitzen tiefblau, dazu das Grün der Wiesen und Wälder, gelbes Getreide. Immer wieder Störche, die jungen sitzen in den Nestern und warten auf Bedienung. Über die Brücke von Kirsajty gelangt man nach Steinort. Dort befindet sich ein großes Gut auf einer Landzunge zwischen Dargin- und Mauersee. Sonst weiß ich aus meiner Lektüre nur noch, daß zu Kriegszeiten sich hier eine Außenstelle der Wolfsschanze befunden hat.

Das Gutshaus scheint unbenutzt zu sein, ein Storchennest verleiht dem Gebäude immerhin eine gewisse Bedeutung. Die Störche sind besonders flugfreudig, erst streichen sie zu fünft über unsere Köpfe, lassen sich dann auf einem Dach der Wirtschaftsgebäude nieder.

Steinort
An der Straße steht eine Schautafel in Deutsch, die studiere ich und bekomme immer größere Augen. "Wißt Ihr eigentlich, wo wir hier sind?" frage ich die anderen. "Das ist der Stammsitz der Lehndorfs". Der letzte Besitzer, Heinrich Lehndorf, wurde mit dem Attentat vom 20.Juli 1944 in Verbindung gebracht und hingerichtet. Der Erbnachfolger wäre heute Hans Graf von Lehndorf, bekannt durch das Ostpreußische Tagebuch. Hinter dem Gutshaus zieht sich ein verwilderter, mit uralten Eichen bestandener Park hinunter zum Mauersee.

Weite Landschaft
Es geht weiter. Kinder bilden eine Kette quer über die Straße, es muß angehalten werden. "Kauhmi, Guhmi, Kauhmi!!" klingt es fordernd. Unsere Mädchen haben das wohl schon öfter erlebt und sind bestens mit Kaugummi eingedeckt. Als Radfahrer sind wir noch nicht auf diese Weise beachtet worden. Jedenfalls sind die Kinder zufrieden: "Jädän", soll heißen, "für jeden eins".

Unterwegs begegnen wir unseren Radfahrern von gestern, demnach sind die auch noch nicht weit gekommen. Uns auf den Rücksitzen entdecken sie nicht, so vermeiden wir einen Gesichtsverlust als bequeme Autotouristen.

Im Wald von Gierloz liegt dann die sagenumwobene Wolfsschanze, das Führerhauptquartier des 2. Weltkrieges. Dieser Wald war seinerzeit so unzugänglich, daß der größte Feldherr aller Zeiten (Gröfaz) diesen Ort als den für ihn sichersten in Europa erwählte. Dennoch wurde hier am 20. Juli 1944 das Attentat von Graf Stauffenberg verübt, das Hitler mit seinem merkwürdigen Schutzengel fast unverletzt überlebte.

Insoweit ein historischer Ort, heute sind die Reste der Bunker zu sehen, die die Nazis bei ihrem hastigen Rückzug gesprengt haben. Nicht alles konnte aufgrund der überdimensionierten Bauweise beseitigt werden. Das steht alles in dem Heftchen über die Wolfsschanze. Vor Ort empfängt uns ein Parkwächter, der informiert über Parkplatzgebühren, Eintrittsgebühren, Führungsgebühren. Da die Mädchen wohl keine so gruseligen Interessen pflegen, halten wir "gebührenden" Abstand von der ganzen Angelegenheit, ich beuge mich der Mehrheit und begnüge mich mit den theoretisch erworbenen Kenntnissen.

Wir kommen nach Ketrzyn (Rastenburg). Das Auto wird vor der Kirche abgestellt. Nach dem Besuch derselben spricht uns eine Frau in ostpreußischem Dialekt an. Gleich merkt man wieder die Absicht: ihre Tochter sei operiert worden, Rente habe sie nicht, ob man nicht... Leider ist diese Frau so schmutzig und ungepflegt, daß man macht, daß man weiterkommt. Als reicher Tourist kommt man sich ja schäbig vor, aber die Bettelei ist in Polen - bei uns ja auch - so verbreitet, daß man das dann irgenwann nicht mehr unterstützen mag. Und was man von den Geschichten, die einem erzählt werden, glauben soll, weiß man auch nicht.

Rastenburg
In einem burgartigen Gebäude besichtigen wir ein Museum für Heimatgeschichte. Im Erdgeschoß archäologische Funde, weiter oben Bilder vom alten Rastenburg, eine Ausstellung ehrt den Herrn Ketrzyn, einen Heimatforscher, nach dessen unaussprechlichem Namen die Stadt heute benannt ist. In einem weiteren Saal ist eine Sammlung masurischer Teppichkunst (da fällt mir doch mein LENZ ein) untergebracht.

Wenige Kilometer weiter liegt ein Unikum: die barocke Wallfahrtskirche Swieta Lipka (Heilige Linde). Die paßt eher nach Bayern als in die Landschaft Ostpreußens. Gerade darum übt sie wohl einen so großen Reiz auf Touristen aller Art aus. Beim Einparken kommen schon ein paar Jungs mit Eimern und Schrubbern, die wollen die Autoscheiben saubermachen. Die sind aber leider schon sauber. Um die Ecke ist ein großer Stand mit Korbwaren. Daneben gehäkelte Decken zu Spottpreisen, alles Handarbeit. Mobile Galerien präsentieren Masurens geballte Malerkunst, wäre doch gelacht, wenn die Sonnenuntergänge, zerzausten Birken und aufsteigenden Wildenten nicht treffliche Motive liefern würden.

Geballte Malkunst von Masuren
Vorbei an den parkenden Autos fällt der Blick schließlich auch auf die eindrucksvolle Kirche. Die Sage von einem, der zum Tode verurteilt wurde, dann begnadigt worden ist und diesem für ihn so glücklichen Umstand eine Linde geweiht hat..., diese Sage hat den Ruhm dieses Ortes im 13. Jahrhundert begründet. Die Linde gibt es natürlich nicht mehr, nur ein toter Kastanienbaum ist ein paar hundert Meter weiter auszumachen.

An einer Schautafel kann man ablesen, was bei einem Rundgang durch die Kirche alles beachtet werden muß. Kitsch und Kunst geben sich mehrfach die Hand. Höhepunkt ist eine grellbunte Holografie, auf der der Papst dreidimensional vor dem Petersplatz seinen Segen über die Menschheit austeilt. Dieses Werk ist käuflich an dem Kirchenkiosk zu erwerben.
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Heilige Linde
Halb erschlagen von dem Prunk finden wir uns zu einem Kaffee zusammen. Zurück geht es wieder über Rastenburg und an kleineren Seen vorbei nach Lötzen.

Erst fahren wir zurück in die Pension. Unser Georg scheint schon mit den Vorbereitungen zum Namenstag am Sonntag befaßt zu sein. Er schleppt ein riesiges Glas mit einer klaren Flüssigkeit. "Woda mineralna ?" probiere ich mein Polnisch aus. Er winkt mich heran, ich solle mal riechen. Da mein leider nicht so gut funktionierender Geruchssinn mich da meist im Stich läßt, folge ich nur widerstrebend. Das sticht aber gleich so in die Nase, daß man weiß, worum es geht. Es ist reiner Alkohol, auf Nebenwegen aus einer Kartoffelschnapsfabrik "umgeleitet".

Zum Essen geht es wieder ins RODNIK. Heute verhält sich eine Busgruppe von älteren Leuten so unauffällig, daß man sie kaum bemerkt. Wir sind enttäuscht, da gibt es gar nichts zu lästern.

Der abschließende Bummel führt uns in ein kleines Häuschen, da ist eine Kunstgalerie drin. Es werden alte Fotos von Lötzen gezeigt, kleine Schmuckgegenstände verkauft. Im Eingangsraum ist in polnisch und deutsch eine philosophische Betrachtung über die Vergangenheit von Siegfried Lenz zu lesen:

Vergangenheit, sie gehört uns allen, man kann sie nicht aufteilen, zurechtschleifen; das verwächst doch miteinander, verschränkt sich, das bestätigt sich gegenseitig in Habgier, Macht und Niederlagen - manchmal, aber sehr selten, in Vernunft; und wer versucht, die Dinge und Beweise zu trennen, die uns hinterlassen wurden, wer sich einen reinen Ursprung zulegen will, der weiß, daß er Gewalt braucht.

(Heimatmuseum, S. 420)

Ein schwieriges Zitat - hier wie wohl kaum anderswo besser - am richtigen Platz. Das ganze Land um uns herum ist voller Vergangenheit, vor allem für die, deren Heimat es einmal war. Für uns als Angehörige der folgenden Generation (Kohl: Gnade der späten Geburt) ist es vielmehr ein neues Land, das wir erst kennenlernen. Aber die Vergangenheit ist vorhanden bei Schritt und Tritt.

Das alte Bäckerhaus
Heidi kauft den Künstlern ein paar Broschen für die Kinder als Mitbringsel ab. Die beiden Schwabenmädchen vergucken sich in zwei metallene Anstecknadeln. Zum Öffnen des Kastens mit den Schmuckartikeln muß einer der Künstler aus einem anderen Raum erstmal die Klinke für das Schloß holen. Nachdem wir nun ja als gute Kunden gelten, kommt immer gleich einer mit der Klinke gelaufen, wenn einer von uns sich auch nur in der Nähe des Kastens aufhält.

Das Haus ist eine alte Bäckerei, anhand eines Fotos kann man rekonstruieren, wie das vor dem Krieg ausgesehen hat: wohl ziemlich genauso. Eine der beiden Linden von damals fehlt, die andere ist inzwischen groß geworden. Vor dem Haus ist ein steinerner Podest mit Tisch, Stühlen und Sonnenschirm, da kann man herrlich sitzen und die Straße hinauf- und hinunterschauen.

Der Chef dieser Kunstbude oder für was wir ihn halten, ist immer mit Leuten am Verhandeln. Unter anderem versucht er, ein kleines Autochen, das vor der Tür steht, für eine Million an den Mann zu bringen. Wenn es sein muß, darf man auch mal über das Autodach hinweglaufen, um die Stabilität der Karosserie zu prüfen.

Zu Hause angekommen, fängt uns Georg ab, der hat da was gefingert. "50 Gramm, reinkommen, 50 Gramm!" Mit 50 Gramm meint er die Menge eines Schnapsglases. Nun kommt er mit einer Wodkaflasche, da ist eine schwachgelbe Flüssigkeit drin. Wir probieren. Das steigt stechend in die Nase. Es handelt sich wohl - ganz wird das nicht verraten - um den bereits zitierten Alkohol, mit Wasser und Honig versetzt. Nun hatten wir vorher ja auch schon Piwo getrunken, jedenfalls lassen wir bald die Finger von der Sache. Hinein in die ganze Korona platzt dann noch der "Heimatguck". Mit Alkohol ist bei ihm nichts zu machen. Er erzählt uns seine Geschichte, die übliche: einmal dem Untergang nahe gewesen... Hochachtung, wenn man da kompromißlos die Konsequenzen zieht.

Sonnabend, 25.7., Badetag

Beim Frühstück erläutert der Heimatguck seine weiteren Pläne. Er muß nochmal mit Mutti nach Goldap, sie ist zu und zu aufgeregt. Es soll auch gefilmt werden. Nur mit der begleitenden Reisegruppe hat er nichts im Sinn, das sei ja wie in der Heringsdose. Und alles nach Kommando!

Wir lassen uns von Georg eine andere Badestelle am Kisajno See empfehlen. Dazu müssen wir durch den Ort fahren, am Ortsausgang rechts abbiegen. Dort ist ein Gebiet mit Ferienhäusern, die kleinsten davon ähneln eher Hundehütten. Ein paar Rasenflächen, ein mit Holzrampen umfaßter Badeplatz, ein schöner Blick auf den See und das rege Treiben der Segelboote entsprechen nun endlich dem, was wir uns vorgestellt haben. Auch das Wasser ist sauber, allerdings auch nicht kristallklar.

Am Badeplatz
Auf dem Rückweg vom Baden besuchen wir die "Große Festung Boyen", wie Georg sie empfohlen hat. Das ist eine Zitadelle aus dem letzten Jahrhundert, eine große Ringbefestigung bestehend aus Wassergräben, mehreren Wällen und dicken Mauern. Fast nicht zu finden ist das alles in dem dicht wuchernden Wald. So verfransen wir uns auch bald und kehren lieber auf dem Weg, den wir gekommen sind, zurück.

Vor unserer Pension hupen uns die Mädchen an, sie kommen auch gerade von ihrem Tagesausflug zurück. Sie waren auf der Suche nach der stillen Waldeinsamkeit mit den kristallklaren Seen. Einen Wald haben sie gefunden, einen See darin auch. Das Wasser aber war im Uferbereich etwas von Schaum bedeckt. Ein paar deutsche Urlauber entstiegen ihren Autos und machten komplizierte Fotos von Oma und Tante. Aber sonst sei es schön da.

Am Abend begeben wir vier zusammen uns in das Hotel zum Essen und "Busse gucken". Wir wollen uns nicht lustig machen über den Verlust der Heimat, und die sicher schmerzlichen Empfindungen, unter denen noch heute viele leiden. Wenn aber folgendes passiert, kann man nicht ernst bleiben: Eine Frau am Nebentisch, auch deutsch, fragt uns, wo wir herkämen. Ich fange gerade an "Ja, das ist verschieden, wir beide aus Braunschweig, die beiden..." Doch die Dame unterbricht: "Nein, ich meine von dem, oder von dem Bus".

Danach ist es um den Ernst der drei Frauensleute geschehen. Zu allem Unglück erscheint nun auch noch der Heimatguck auf der Hoteltreppe. Jede Äußerung von dem löst bei den Mädchen ein neuerliches Prusten aus. "Freut sie das so, was ich da sage?" fragt er arglos. Ich versuche den ruhigen Pol zu bilden und mit verkniffenem Gesicht ernsthaft zu bleiben.

In der letzten Nacht sind zwei Autos vor dem Hotel geklaut worden, hören wir vom Nebentisch. Auch zu sehen gibt es viel. Zwei Radfahrer suchen wohl noch Quartier, sie erscheinen immer mal wieder, in unterschiedliche Richtungen radelnd, auf der Bildfläche. Jedes ankommende Auto sorgt für Spannung, wo kommt es her, kriegen die Insassen noch ein Zimmer im Hotel?

Irgendwann ist die Kicherstunde vorbei, wir zahlen und begeben uns auf den Abendbummel. Zuerst treffen wir die beiden quartiersuchenden Radfahrer. Ein junges Pärchen, sie kommen aus Freiburg. Da muß man doch wohl helfen, ein Zimmer ist in unserer Pension ja noch frei. Sie sind auch ganz glücklich, daß sie nun nicht auf einem Campingplatz landen. Bis zum Bahnhof bringe ich die beiden hin, dann ist es ja leicht zu finden.

Derweil haben sich die drei Frauensleute schon auf dem Adlerhorst vor der Bäckerei eingenistet. Nicht lange, da fährt Georg mit seinem Taxi vor, er bringt ein paar ältere Herrschaften vorbei - alte Lötzener - die wollen sich die Postkartenausstellung einmal ansehen. Wir kommen kurz ins Gespräch, warum wir diese Reise unternommen hätten. Bei Heidi und mir läßt sich das ja auch einigermaßen mit dem Heimatgucken erklären. Die beiden Mädchen aus Schwaben aber, auf literarischen Spuren? Da sagt die alte Dame einen sonderbaren Satz: "Na ja, die Bücher von Siegfried Lenz mögen ja ganz hübsch sein, doch alles ist nicht so, wie er es schreibt." Sie beugt sich näher ran: "Wir waren jedenfalls keine Pollacken". Dann verschwindet sie im Haus. Wir gucken uns groß an, den Zusammenhang verstehen wir nicht so ganz. Später haben wir leider keine Gelegenheit mehr, das aufzuklären.

Für die beiden Mädchen ist heute der letzte Abend, morgen wollen sie in aller Frühe weiter Richtung Warschau. So spendiert Georg nochmal einige seiner 50 Gramm, die wir uns mehr schlecht als recht hinunterwürgen.

Sonntag, 26.7. Baden und Namenstag

Die Mädchen sind tatsächlich kurz nach dem Hahnenschrei pünktlich aufgebrochen, so konnten wir uns nicht mal ordnungsgemäß verabschieden. Beim Frühstück werden sie gleich ersetzt durch die beiden Radfahrer, die allerdings heute wieder weiter wollen. Sie werden sich Richtung Süden halten, wollen dann noch in die Karpaten und in den Beskiden wandern. Da muß man erst mal in den Atlas gucken, was damit gemeint ist. Der Heimatguck hat heute einen freien Tag, wo er nicht als Chauffeur eingesetzt wird. Wir rätseln, wo der Ort Suleyken liegen mag, bekannt von "So zärtlich war Suleyken" von Siegfried Lenz. Er sei bei einer der vergangen Reisen da schon mal gewesen, meint der Heimatguck.

Wir begeben uns an unsere Badestelle. Eine Gruppe von Soldaten marschiert militärisch auf den Badesteg, befindet sich kurz danach weniger militärisch, der Uniformen entledigt, tobend und prustend im Wasser. Bei dem Imbißstand hat man einen Fernseher aufgestellt, da sitzen die Sportsfreunde in mehreren Reihen davor, die Schwimmwettkämpfe der Olympischen Spiele haben begonnen. Uns genügt es, selbst dem Schwimmen zu frönen.

Man ist so schön faul. Ich döse oder schlafe sogar. Heidi behauptet ja immer gleich, daß ich schnarche, auch wenn ich noch gar nicht schlafe, wie ich meine. Wie ich wieder zum Himmel blinzele gibt es jedoch eine Überraschung, eine dunkle Wolkenwand ist aufgezogen, einige erste Windböen fegen über das Wasser, die Segler streben eilig den schützenden Buchten zu. Wir packen auch schnell ein, die Soldaten krabbeln in ihre Uniformen. Schnell sind wir auf den Rädern und in den Ort zurück gefahren.

Wir schauen kurz bei dem ehemaligen Schloß vorbei, das dort befindliche Lokal macht aber einen so finsteren Eindruck, daß wir lieber weiterziehen. Jetzt setzt der Regen heftig ein, wir finden einen Kiosk mit überdachtem Freisitz. Kaffee und Würstchen dienen als Mittagessen. Man kann hier schadenfroh den durchnäßten Seglern zusehen, die auf dem Kanal zwischen den Seen teilweise paddelnd auf ihren Anlegeplatz zutriefen.

Als es einmal mit dem Regen nachläßt, wagen wir uns auf die Heimfahrt. Dabei nimmt der Regen aber wieder zu, daß wir dampfend ankommen. Bei dem Wetter vergeht der Nachmittag unter Einhaltung absoluter Mittagsruhe. Gegen 17 Uhr machen wir uns auf den Weg zum Essen. Georg fängt uns noch ab und stellt klar: "18 Uhr Namenstag feiern". Um da nicht mit leeren Händen aufzukreuzen, suchen wir uns einen Laden, der heute geöffnet hat. Er ist rappelvoll und es herrscht eine drückende Hitze da drin. Über eine halbe Stunde muß man anstehen, dann können wir einen Pralinenkasten erstehen. Heute essen wir etwas leichtes, wieder im Mazurka. Gegen 19 Uhr, zu pünktlich soll man ja nicht sein, sind wir wieder zurück.

Sogleich werden wir in die gute Stube gebeten. So an die 20 Gäste, Freunde und Verwandte. Das ist uns fast peinlich, wir sind doch nur durchreisende Zugereiste. Aber auch noch zwei ältere Deutsche treffen wir an, Schwester und Bruder, die waren im vergangenen Jahr schon mal hier. Diesmal wollten sie nur ein Glas Honig holen, schon sitzen sie mit in der Namenstagsrunde.

So langsam klärt sich auf, wer wer ist und wer zu wem gehört. Getrunken wird nur Wodka, nach jedem Schluck sofort Mineralwasser hinterher. Der Tisch steht gestopft voll mit Leckereien: geräucherte Fische, Schinken, Gebratenes, Geflügel usw. Uns schmeckt es noch ganz gut, ständig wird man genötigt, mehr zu nehmen. Zwischendurch wieder ein Wodka."Hallo Chef, alles ok?" sagt Georg jedes Mal. Oder "Hallo Chef, was is los?", wenn das Glas noch nicht leer ist. "Selber Chef, nastrowje" lautet die Antwort meistens.

Zur Beruhigung sei gleich gesagt, daß das Ganze nicht zu einem Besäufnis führt, bei dem Essen verteilt sich das irgendwie. Es handelt sich auch um ordentlichen Wodka, nicht um das selbstgebraute Produkt. Nur Onkel "Juwelier" hat wohl sein Quantum etwas überschritten. "Frau gestorben, nicht viel vertragen" wird aber entschuldigend gesagt.

Als der Heimatguck aufkreuzt, weigert er sich standhaft, sich der Runde zuzugesellen. Er sei heute in Suleyken gewesen, berichtet er thriumphierend. Wir sollten ordentlich weiterfeiern, wenn es zu laut würde, da hätte er so Pröpsel dabei, für die Ohren. Dann verschwindet er. Wir feiern also noch weiter, schließen so halbwegs mit einem nach dem anderen Freundschaft - wie es so zugeht bei solchen Gelegenheiten. Wir begeistern uns auch an einem gegenseitigen Kinderbesuch, die polnischen Kinder haben ja nun alle Deutsch in der Schule, da kommen sie gern nach Deutschland. Ob wir unsere Stefanie zu einer Freundschaft mit Anja, Georgs Tochter, überreden können, müssen wir dann noch sehen.

Mit Umarmungen und Küßchen werden die Verabschiedungen durchgeführt. "Diesen Tag bei Euch werden wir nie vergessen - Danke für die Gastfreundschaft" oder sowas ähnliches schreiben wir in das Gästebuch.

Montag 27.7., ein ganz normaler Tag

Noch etwas benebelt, aber nicht allzu schlimm, stehen wir heute etwas später auf. Trotzdem sitzen wir beim Frühstück allein, denn der Heimatguck verschläft noch viel mehr. Er reagiert auch auf Klopfen und Rufen nicht, wahrscheinlich wegen der Ohrpröpsel. So erfahren wir leider nicht mehr, wo Suleyken liegt und wie es dort aussieht.

Wir haben unsere Abfahrt nun auf Dienstag geplant, da gibt es viel zu erledigen. Zuerst besorgen wir eine Hundeleine für unseren Ajax, die kosten hier nur einen Bruchteil des Preises bei uns. Nun ist noch der Spruch von S. Lenz in der Bildergalerie abzuschreiben, man ist ja ein gründlicher Chronist. Hoffentlich denken die Künstler nicht, daß man vom Geheimdienst kommt.

Dann begeben wir uns in das Orbis Büro und beginnen eine Aktivität, die uns an sämtliche Schalter dieser Einrichtung führt. Zuerst reservieren wir (Schalter 1) ein Hotelzimmer in Warschau für zwei Nächte. Das geht erstaunlich schnell über Telex, bald erhält man eine schriftliche Bestätigung. Ob allerdings der genannte Preis für eine oder zwei Nächte gilt, kann uns die Angestellte schon nicht mehr sagen.

Dann werden die Fahrkarten Warschau - Braunschweig gelöst (Schalter 2). Das nimmt so seine Zeit in Anspruch, mehrfach werden wieder Pulks der beteiligten Mitarbeiter gebildet. Zum Bezahlen der Fahrkarten muß ich einerseits noch Zlotys auf die Reiseschecks eintauschen (Schalter 3), andererseits an der Kasse (Schalter 4) auch einen Teil des Fahrpreises in Devisen (DM) bezahlen. Als wir nach einer Weile schon etwas geübter sind, agieren Heidi und ich gleichzeitig an zwei verschiedenen Schaltern. Es gilt nämlich noch, eine Fahrkarte von Lötzen nach Warschau zu lösen (Schalter 5). Eine junge Frau hinter uns in der allmählich wegen uns wachsenden Warteschlange wundert sich: "Warum wollen Sie über Warschau nach Deutschland fahren, das ist ein Umweg". Mir entfährt die etwas schnoddrige Antwort: "Da hätten wir gleich zu Hause bleiben können, die ganze Fahrt war ein Umweg". "Das ist aber böse" sagt sie und ist beleidigt. Ich versichere aber, es sollte ein Scherz sein, und dann lacht sie doch.

Zu allem Übel fährt ein ehemals durchgehender Zug von Lötzen nach Warschau aus unerfindlichen Gründen seit dem vergangenen Wochenende nicht mehr, die Verbindung über Allenstein ist so gut wie unmöglich. Nachdem wir selber die Fahrplanberatung in die Hand nehmen, finden wir eine Verbindung über Elk (Lyck) und Bialystok, wären bereits mittags in Warschau, besser geht's ja gar nicht. Endlich haben wir auch die zugehörigen Fahrkarten, aufatmend treten wir nach über einer Stunde Schalterkampf wieder an die frische Luft.

Das Wetter hat sich bestens entwickelt, es ist wieder Badewetter. Vorher schlendern wir über den Flohmarkt, da ist auch nicht viel zu sehen. Eine dichte Gruppe von Zuschauern sammelt sich um ein paar Hütchenspieler, da wird eine kleine Kugel unter einen von drei gleichaussehenden Bechern gelegt, diese werden dann behende hin- und her- und kreuz- und quer- geschoben, bis derjenige, der einen Einsatz gewagt hat, danz dusselig ist. Wenn er den richtigen Becher mit der Kugel herausfindet, gewinnt er. Komischerweise gibt es immer noch Leute, die sich auf dieses Spiel einlassen, man wird selten so gründlich über's Ohr gehauen.

Auf dem Rückweg schauen wir beim Bahnhof vorbei in der Hoffnung, daß wir die Räder vielleicht gleich als Gepäckstücke nach Deutschland aufgeben können. Das ist gänzlich unmöglich, wir sind froh, daß wir wenigstens Gepäckfahrkarten bekommen.

Der Rest des Tages vergeht mit einem letzten Badebesuch. Wenn man heute den Seglern zusieht, wird man vollends schläfrig, es ist völlig windstill. So vergeht der Nachmittag ohne besondere Ereignisse, nach dem Essen setzen wir uns ein letztes Mal auf dem Steinpodest vor der Bäckerei nieder. Ein Piwo vor sich, die Hände auf dem Bauch gefaltet, der Blick die Straße rauf und runter. Die Abendsonne blinzelt einem in's Gesicht. Schön war's in Lötzen!

Am Nachbarhaus befindet sich ein Balkon, da erscheint zwischen wehenden Gardinen abwechselnd ein Säugling mit sich langsam auflösender Windelkonstruktion und ein Schäferhund, beide kontrollieren gewissenhaft, was so auf der Straße vor sich geht. Vor dem Haus steht immer noch das 1 Million Zloty Auto, man hat es inzwischen mit einer Aufschrift versehen: "Car kills Cat - Cat kills Car". Soll wohl witzig sein. Ein Mercedes neuester Bauart parkt daneben, dieser Wagen fiept jedesmal auf, wenn sein Besitzer sich von ihm entfernt oder sich ihm nähert. Wir kommen aber drauf: das ist eine Alarmanlage, die per Fernbedienung an- und abstellbar ist.

Zu Hause wird gepackt, das dauert nicht lange. Zum Abschied bekommen wir ein großes Glas Honig geschenkt, dazu eine Flasche Wodka mit gelblichem Inhalt. Außerdem werden diverse 50 Gramm weggeputzt. Beizeiten legen wir uns nieder, morgen soll es sehr zeitig losgehen. Den Heimatguck kriegen wir nicht mehr zu Gesicht, wie werden wir jemals erfahren, wo Suleyken liegt?


Kapitel 4