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Dienstag 28.7. Lötzen - Bialystok - Warschau

Um 5.15 Uhr stehen wir auf. Wie groß die Gastfreundschaft ist, erkennt man daran, daß Anna und Georg es sich nicht nehmen lassen, so früh am Morgen mit aufzustehen und für das Frühstück zu sorgen. Der Abschied erfolgt unter Umarmungen und Winken, richtig wohl haben wir uns hier gefühlt. Bei aller Aufregung habe ich leider versäumt, das obligate Familienfoto zu machen.

Wir rollen zum Bahnhof, gegen 6 Uhr soll der Zug fahren. Er hat aber wieder Verspätung und wir frösteln. Endlich rollt der Zug ein, mit dem Einladen haben wir schon Routine. Wir haben auch 1. Klasse gelöst, das spielt bei den geringen Fahrpreisen gar keine Rolle. Für die nächsten zwei Stunden genießen wir die Landschaft, die Karte liegt ausgebreitet bereit, jede Ortschaft, jeder See werden identifiziert. So weiß man immer, wo man ist. Schade, daß man diese Gegend nicht auch durchradelt, aber alles kann man nicht haben.

In Bialystock müssen wir umsteigen. Es ist wie am Ende der Welt, wir haben den weitesten Punkt unserer Reise erreicht. Zu einem Besuch der Stadtmitte reicht die Zeit nicht, so genehmigen wir uns nur einen Kawa vor einer Imbißbude. Dabei bekommt man natürlich nicht einen gerade repräsentativen Eindruck von dem Ort. Man fühlt aber geradezu die Nähe der russischen Grenze, zumindest bildet man sich das ein.

Mit dem Zug nach Warschau geht es wieder in westliche Richtung. Die Landschaften wechseln, mal rein landwirtschaftlich genutzt, andere Male herrliche Parklandschaften mit Wiesen und einzelnen und in Gruppen stehenden Bäumen. Irgendwann fährt man über den Bug, irgendwann taucht die Kulisse von Warschau auf. Mehrere Hochhäuser: "Such Dir eins aus, das ist unser Hotel" sage ich zu Heidi.

Die Brücke über die Weichsel kommt, der Bahnhof Am Stadion wird passiert, dann taucht man unter und erreicht schließlich den Zentralbahnhof, dessen Bahnsteige unter der Erdoberfläche liegen. Zunächst mangelt es uns an jeglicher Orientierung, fremde Namen, fragen kann man auch keinen. Mich ergreift wieder das Gefühl: "uns klaut gleich einer was". Das ist aber nicht der Fall, das komplett bleibende Gepäck muß mitsamt den Rädern wieder rauf und runter gehievt werden. Endlich erblickt man das Tageslicht. Der riesige Kulturpalast auf dem größten Platz Europas begrüßt jeden Warschaubesucher auf eindrucksvolle Weise, da er unübersehbar ist.

Warschau
Mit dem Stadtplan bewaffnet ist es nicht schwierig, den Weg zum Hotel FORUM zu finden, es liegt ganz in der Nähe. Wir schieben gerade über eine Straße, da kommt eine Windböe um die Ecke, reißt einem Passanten die Joggermütze vom Kopf, er hinterher. Das amüsiert einen ja immer. Plötzlich ruft Heidi "Vorsicht!", da prasselt kurz hinter mir ein Scherbenhagel herab, wohl herrührend von einem zuschlagenden Fensterflügel in einem der oberen Geschosse über uns. Wir bleiben unversehrt, besser man malt sich gar nicht aus...

Das Hotel FORUM kann man übersehen, wenn man immer so schräg vor sich hin schaut. Aufwärts muß man den Blick richten, dann erscheint ein 30 geschossiges Hochhaus in gelb-orangener Farbe im Blickfeld.

Jetzt sind wir doch etwas verschreckt. Rein interessehalber fragen wir in einem gerade neben uns befindlichen Hotel nach Doppelzimmer und Kosten. Zur Zeit sind nur zwei Einzelzimmer verfügbar, die kosten, wie sich zeigen wird, zusammen halb so viel, wie das für uns reservierte Zimmer im FORUM. Als anhänglicher Gatte erlaube ich mir noch die naive Frage, ob man denn in einem der Einzelzimmer auch zu zweit übernachten könne. Das war wohl nichts, nur eine verständnisloser Blick.

Also auf in das Hotel FORUM, immerhin haben wir dort ja schon gebucht. So einfach ist das auch nicht, wir müßten wieder eine Unterführung meistern, die unter den verkehrsreichen Straßen Jerozolimskie und Marszalkowska hindurchführt. Diese beiden Straßen bilden das Zentrum der neuen Warschauer Innenstadt. Auf dem Bürgersteig der "M", um ein erneutes Niederschreiben dieses Zungenbrechers zu vermeiden, schieben wir ein paar Straßen weiter, bis sich ein Ampelübergang auftut. Die "M" wird noch eine besondere Rolle bei unserer Warschauvisite spielen.

An den hoteleigenen Taxis vorbei, zum Glück ist da keine Drehtür, die Portiers schauen auch gerade weg, sind wir - schwupps - mitsamt den bepackten Rädern in der Hotelhalle. Der Fußboden ist in Travertinplatten gehalten, ob man sowas nicht auch auf unserer Terrasse statt des Waschbetons verwenden könnte, meint Heidi später. Zunächst aber ist der Teufel los. Ich stehe, in kurzen Hosen mit dem Rucksack auf dem Rücken vor dem argwöhnischen Rezeptionsangestellten, meinen Reservierungsbeleg und die Pässe fummle ich aus dem Brustbeutel.

Am Eingang spielen sich inzwischen Szenen ab. Heidi (die trägt wieder die Verantwortung), muß sich energisch wehren, daß wir als vermeintliche Untermenschen nicht gleich von den nun plötzlich hellwachen Portiers hinausgeschmissen werden. "Wir haben reserviert", das hilft erstmal.

Derweil verhandle ich mit der Rezeption. Wir sind sogar schon im Computer. Nun frage ich nach dem Preis. Ob die 1.6 Millionen Zlotys (DM 200) auf dem Reservierungsformular für beide Nächte gelten würden. Nein, nur für eine Nacht! Ich sage: "Da muß ich mit meiner Frau nochmal diskutieren" und begebe mich, einen imaginären Pantoffel über dem Kopf, zu derselben. Wir sind uns aber einig, was sollen wir noch kleckern, der ganze Urlaub war so billig, da können wir auch mal klotzen.

Herrlich, so einen wertvollen Zimmerschlüssel in Empfang zu nehmen, 14. Stock, das muß ja schon über den Baumwipfeln sein. Wie wir mit den zugehörigen Papieren ausgestattet sind, sind die eifrigen Portiers wie ausgewechselt. Sie reißen uns die Räder aus der Hand, schieben schlingernd die schwere Fracht einen Gang entlang Richtung Gepäckraum. Man traut seinen Ohren nicht, sie probieren fröhlich die Klingeln aus. Aber für ein Bakschisch sind wir nach dem weniger herzlichen Empfang nicht zu haben.

Mit unseren vielen einzelnen Gepäckstücken besteigen wir anschließend prompt den falschen Fahrstuhl, der geht nur bis zum 11. Stock. Also wieder runter, eine Ecke weiter gehen die Fahrstühle in die oberen Etagen ab. Endlich stehen wir vor der richtigen Tür. Die Aussicht aus dem Zimmer ist berauschend, die gesamte nördliche Warschauer Stadtkulisse liegt vor einem ausgebreitet.


Warschau-Panorama
Das Zimmer besitzt eine Klimaanlage, einen Fernsehapparat (selbstredend), einen Kühlschrank, der aber leer ist, ein Badezimmer mit Badewanne. Im Schreibtisch finden sich Ansichtskarten, Briefpapier, Nähzeug und eine Bibel. Später zu Hause muß ich konstatieren, daß Heidi sich das Nähzeug als Andenken angeeignet hat.

Nach der Bahnfahrt geruht man nun, ein komfortables Bad mit hoteleigenem Shampoo zu nehmen. Danach stürzen wir uns erfrischt und unternehmungslustig in das Warschauer Stadtgewühl. In der Unterführung, die wir zuvor zu vermeiden wußten, tummeln sich die Händler, Bettler, Brot- und Zigarettenverkäufer. An einem Stand werden Plastiktüten verkauft, wer was auf sich hält, ist im Besitz einer ALDI-Tüte und trägt sie stolz zur Schau. Man weiß nicht so richtig, ist das die freie Marktwirtschaft? Aber die lernen wir gleich kennen. Wir kommen nämlich genau vor dem Kulturpalast an das Tageslicht, begeben uns auch sofort in denselben. Nagelneue Kaufateliers sind hier untergebracht, vornehme Waren wie Textilien, Schuhe, Kosmetika und was man sonst so zum weniger einfachen Leben braucht, werden in gläsernen Vitrinen zum Kauf angeboten.

Auf dem Platz vor dem Kulturpalast sind provisorische Markthallen aufgestellt. An den Parkwegen stehen Plastikbuden, wo es Obst, Zigaretten, Bernsteinketten, Tischdecken, Trainingsanzüge und viele andere Dinge zu kaufen gibt. Das hat es vor einigen Jahren sicher noch nicht in dem Maße gegeben. Nun sitzt den Polen das Geld auch locker in der Tasche, da die Zlotys ständig an Wert verlieren, und deswegen lieber gleich ausgegeben werden. Für Ersparnisse bleibt da nichts, die Frage, wann die Zahlungskraft nachläßt und das ganze wieder in sich zusammenbricht.

An der "M" (Marszalkowska) befindet sich, wie eine Parodie des Ganzen, ein gut besuchtes Mac Donald Restaurant. Da ist man zwischen Wien und New York wohl nicht sicher davor. Hier gibt es sogar Verkehrsschilder für diese Abfütterstelle. Jedenfalls haben die westlichen Investoren überall ihren Fuß in der Tür.

Auf dem weiteren Weg fallen uns immer wieder piepende oder tutende Autos auf, die Warnblinkanlage in vollem Gange. Das sind dann parkende Autos, denen einer zu nahe gekommen ist und die Alarmanlage ausgelöst hat. Weiter fällt auf, daß die Erdgeschosse aller Gebäude vergittert sind.

Wir geraten, immer auf dem Weg Richtung Stare Miastro (Altstadt), in den Park Ogrod Saski, auf deutsch Sachsengarten. Ein Fahrradfahrer hat wohl das Rad erst seit kurzem, denn er kurvt enthusiastisch zwischen den Parkbänken herum. Sogar einen Sturzhelm hat er angelegt. Am Ende des Parks sehen wir andere Helme, hier bewachen zwei Soldaten das Grab des unbekannten Soldaten. Nun ist gerade Wachablösung. Mit unbewegten Gesichtern nähern sich drei Soldaten im Stechschritt den beiden ebenso unbeweglichen Diensttuenden, machen ein paar Begrüßungsgebärden, wenden dann auf der Stelle, nehmen die beiden vom schweren Stehen Gezeichneten mit und lassen die zwei neuen für ihre schwere Aufgabe zurück. Spätestens am Zebrastreifen an der vielbefahrenen Autostraße kommt man aus dem Takt und begibt sich dann schlendernd in die nahegelegene Kaserne.

Als wir den Mund wieder zumachen können vom Staunen, wenden wir uns den Sehenswürdigkeiten zu, die auf dem Weg in die Warschauer Altstadt liegen. Das sind meistens Kirchen. Wenn man sich nur erinnern könnte, wie die alle von innen ausgesehehen haben...

Dann steht man endlich vor dem berühmten Platz vor dem Schloß. Auf einer Säule steht ein Krieger mit gezogenem Schwert, alles in Form eines Denkmals. Der Krieger heißt Sigismund III Wasa, so steht es in dem Stadtführer, den wir noch in unserem Hotel erworben haben. Mein Foto kann leider nicht die parkenden Autos zu seinen Füßen wegzaubern.

Warschauer Schloß
Alles, was wir nun zu sehen kriegen, ist nach dem Krieg wieder aufgebaut worden. Es handelt sich um die Warschauer Altstadt, auf polnisch Stare Miastro. Das ganze ist umringt von einer Stadtmauer, durch Tore betritt man das Innere. Kleine Gassen mit malerischen Hausgiebeln, dazwischen Kirchen, alle Türen stehen offen, man kann jedesmal der Versuchung nicht wiederstehen, hineinzuschauen. Vor einer Kirchentür steht eine Frau und bettelt zweisprachig, auf Deutsch heißt ihr Spruch: "Keiner zahlt Rente...".

Das Herz der Stare Miastro ist der Altstadtmarkt, umstanden von reichverzierten Häusern. Auf dem Platz verkaufen mehrere Leinwandkünstler Gemälde, Tuschzeichnungen oder Aquarelle, alles Darstellungen von Warschauer Motiven. Eine französische Studentengruppe macht sich für ein Platzkonzert fertig. Vor den Eingängen zu den Kellerlokalen stehen livrierte Kellner.

Uns plagt auch der Hunger, für heute haben wir eigentlich schon genug gesehen. An der Krakowskie Przedmiescie (bitte mal nachsprechen) landen wir in einem Pizzalokal. Die Pizzas haben schon einen ganz ordentlichen Umfang, Heidi muß einen Kreissektor übrig lassen, bei mir gibt es keine Probleme.

Denkmal des Kopernikus
Der Rückweg gestaltet sich etwas hektisch, keine Gelegenheit zum gemütlichen Schlendern, vielzusehr drängt es einen von uns auf das eigene Örtchen im eigenen Zimmer. Man erreicht das Ziel mit Müh und Not... Danach setzen wir uns in die Empfangshalle, wo ein reges Treiben herrscht. Viel englisch sprechendes Publikum, also Amerikaner und Japaner mit umgehängten Fotoapparaten und Videokameras (Camcorder) befinden sich auf touristischen Pfaden. Jemand geht mit einem Schild an einer Stange herum, "Bitte sammeln zum Chopin Abend". Man hat fast den Eindruck, Warschau habe keine andere Berühmtheit hervorgebracht als Chopin, um den wird ein regelrechter Kult getrieben. Ein kleiner englischer Junge bekommt von seinem Opa ein Poster von Chopin spendiert. Da ist er selig. Vielleicht hat er zu Hause auch Klavierunterricht.

Uns gegenüber sitzen ein paar Damen. Die mustern ständig und hellwach den steten Besucherstrom. Was da nun wieder dahintersteckt? Es gibt auch eine Menge Herren mit Jacket, Krawatte und Diplomatenköfferchen. Das sind sicher Geschäftsleute, die die Nabelschnur zum westlichen Europa fester anknüpfen. Vielleicht wollen auch die Damen mit denen Geschäfte anknüpfen?

Wir landen jedenfalls bald auf unserem Zimmer. Um nicht auf die tägliche Brise Schwachsinn verzichten zu müssen, wird per Fernsehen die Mini Playback Show (Mareike Armado) reingezogen. Anschließend ein bißchen Olympia, das ist auch nicht viel besser.

Mittwoch, 29.7., Warschau

Dieser Tag steht uns nun voll zu einer systematischen Besichtigung von Warschau zur Verfügung. Es beginnt natürlich mit dem Frühstück, auf das man bei den gepfefferten Preisen gespannt sein darf. Wir verzehren Rührei mit Speck, es ist aber alles nicht so super, wie man erwarten würde. Am Tisch kommen wir in ein Gespräch mit zwei deutschen Geschäftsleuten. Der eine handelt mit Gartenhäusern, da will er mit polnischen Lieferanten Verträge schließen. Der andere ist sein Rechtsanwalt, der muß aufpassen, daß sein Auftraggeber nicht über den Tisch gezogen wird. Wir geraten in eine interessante Diskussion über die Probleme in Polen, die Juden, das Warschauer Ghetto...

Unser Rundgang beginnt am Zentralbahnhof, wo wir erkunden wollen, wie wir am besten mit den Rädern verfahren. Ob wir die Räder im Zug mitführen können, ob dieser einen Gepäckwagen hat, oder ob die Räder als Gepäckfracht aufgegeben werden müssen. Das zu erfahren ist hoffnungslos, an den Auskunftsschaltern gibt es entweder Sprachprobleme oder es bilden sich wieder Pulks, die aber zu keinem Resultat kommen. Wir beschließen, die Räder am nächsten Vormittag vor unserer Abreise aufzugeben.

Gleich hinter dem Bahnhof liegt ein weiteres Edelhotel, das Holiday Inn. Was das Doppelzimmer hier kostet, müssen wir schon in Erfahrung bringen. Was wohnen wir billig, bei 185 Dollar geht das hier erst los.

Nun stehen wir direkt auf der Rückseite des Kulturpalastes. Man kann mit dem Fahrstuhl auf eine Aussichtsplattform hinauffahren, mal sehen, wie das geht. Wir betreten den Bau über einen Hinterhof und Nebeneingang, befinden uns wohl in der Gegend eines Kongreßsaales. Kaum, daß wir mal unschlüssig im Kreis herumschauen, erscheint schon eine der allgegenwärtigen Kellerasseln, das sind - meistens livrierte - Aufpasser, die in allen Ecken zu sitzen scheinen. Mit dem Schlüsselwort Panorama werden wir um ein paar Ecken und über Treppen bis vor die zuständige Eintrittskasse gelotst. Die Fahrt mit dem Fahrstuhl würde wieder ein paar Mark für jeden kosten. Da wir die Aussicht von unserem Zimmer auch schon teuer bezahlt haben, verzichten wir auf die Tour in luftige Höhe. Im Kulturpalst findet sich ein riesiges Buchgeschäft, leider ist es so, daß die Bücher in Polnisch spottbillig sind, die in Englisch oder Deutsch aber unseren Preisen entsprechen.

Wir begeben uns auf die Nowy Swiat, die liegt in der Verlängerung der Krakowskie Przedmiescie von gestern. Diese beiden Straßen bilden einen Teil des Königswegs, wie er im Stadtführer bezeichnet wird. Zuerst aber suchen wir eine Post auf und telegrafieren unsere voraussichtliche Ankunft nach Hause.

Kreuzkirche
Die Sehenswürdigkeiten am Königsweg sind zahlreich: Denkmäler, Paläste und Kirchen. Sie werden im Führer allerdings in entgegengesetzter Richtung zu unserer Laufrichtung beschrieben. Das hat Heidi nicht bemerkt, mit forschem Schritt, das Heft immer geöffnet vor sich, bringt sie einiges durcheinander. Macht aber nichts, die Namen kann man sich sowieso nicht merken.

Am Grab des unbekannten Soldaten ist was los. Eine große Limousine steht auf dem Platz. Von weitem sehen wir, wie zwei Herren eine Ehrengarde abschreiten. Ob das der Staatschef Lech Walensa ist? Wir sind zu weit weg. Bis wir etwas erkennen können, sind die beiden schon mit der Limousine enteilt. So bleibt für uns nur das Ende der Prozedur, die Militärkapelle macht sich zu ihren Bussen auf, die Ehrengarde mit aufgesteckten Bajonetten absolviert den Abschlußappell.

Am Beginn der Kozia Gasse, der engsten Gasse in Warschau, trinken wir in einer Art Künstlerlokal einen Kaffee. Als die Rechnung kommt, sind wir aber geplättet, DM 5.- für eine Tasse?

Auf dem Platz vor dem Schloß, wo der Zygmunt auf der Säule steht, ist schon wieder etwas los. Erstmal kommen eine ganze Reihe Polizeiautos. Es folgen drei VOLVO-Limousinen, ihnen entsteigen einige vornehm gekleidete und noch vornehmer sich benehmende deutsche Damen. Dazu gehört noch eine Art Troß, das sind jüngere Herren, die sicher unterschiedliche Aufgaben im Dienst der Damen haben. Ehrfurchtsvoll betritt diese Korona das Schloß, das wir eigentlich gerade besichtigen wollten. Wir fragen lieber erst, ob man denn unter diesen Umständen auch...

Man schickt uns jedenfalls zum Eintrittskartenlösen, die Sache ist gar nicht so billig. Dann erscheinen wir wieder am Schloßportal und passieren die erste Kontrolle.

Im ersten Flur kommt der nächste auf uns zu, Kontrolle. Dann müssen wir unsere Taschen abgeben, damit wir nicht womöglich die Einrichtung des Schlossen von dannen tragen. Nun geht es in den Keller. Da muß man Filzlatschen anlegen, um das Parkett zu schonen. Ich finde nur verschieden große, so ragt mir der eine Latschen hinten 10 cm über den Hacken hinaus. Dann wieder hinauf, ob wir einen Führer wünschten, der kostet auch nochmal so viel, wie der Eintritt. Das machen wir lieber selber. Man entläßt uns auf den durch Pfeile gekennzeichneten Rundgang.

Wenn man weiß, daß dieses Schloß in Schutt und Asche gelegen hat, ist es einem völlig unvorstellbar, woher die Mittel und die Energie für einen derartigen Wiederaufbau gekommen sind. Man kann es nachlesen: ein großer Teil der Staatsverschuldung hat hier seinen Grund. Alles ist mit Gold getäfelt, Intarsienparkett unter unseren schonenden Filzlatschen, kunstvolle Spiegel, Kamine, wertvolle Möbel. Allein den feinziselierten Stuck an den Decken und Wänden herzustellen, muß man Jahre benötigen. Überall hängen Bilder aus den verschiedenen Herrschergenerationen. Ziemliche Banausen sind wir, weil wir natürlich nicht viel Wissen über die Einzelheiten mitbringen. Manchmal können wir um eine geführte Gruppe herumscharwenzeln und etwas aufschnappen, aber das ist dann auch nicht so interessant.

Und jetzt kommt doch noch was: plötzlich finden wir uns in einem Raum mit der Prominentenpartie wieder. Als erstes sehen wir: die brauchten gar keine Filzlatschen anzuziehen, denen hat man eine Extrawurst gebraten! Um wen mag es sich bei den Herrschaften wohl handeln? Wir können ja schlecht fragen, also erfinden wir einen Phantasienamen: "Prinzessin zu Schönaich-Brozulat". "Verarmter Adel" sagt Heidi. Einer der Herren mit unterschiedlichen Aufgaben hört das wohl und guckt mißbilligend. Ich murmele noch was von den Filzlatschen, das wäre ja geradezu ein Symbol der Klassengesellschaft.

So endet unser Rundgang doch noch mit viel Heiterkeit. Der Filzlatschen entledigt, schauen wir dabei zu, wie die Schönaich-Brozulats sich auf dem Schloßhof versammeln, um sich gegenseitig zu huldigen.

Wir machen wie gestern einen Rundgang durch die Altstadt unter Weglassung der Kirchenbesichtigungen. Auf unserem Weg passieren wir viele Polizisten, die an allen strategisch wichtigen Punkten postiert sind. Mehrfach muß ich Heidi aus Schmuck- oder Antiquitätengeschäften herauszerren, wo sie immer mit Sterling- und was weiß ich für -silber liebäugelt. Auf einer Straße neben dem Altstadtmarkt wird ein Model fotografiert, liebreizender Blick, blendend weiße Zähne leuchten den Scheinwerfern und klickenden Kameraverschlüssen entgegen. Jetzt zerrt Heidi mich weiter, weil ich mit meinem Rucksack immer im Weg stehe. "Du bist ja nur sauer, daß Du da nicht vor den Kameras stehst" muß ich da schon sagen.

Altstadt
Wieder auf dem Schloßplatz, da machen sich die Schönaich-Brozulats mit den verschieden verwendbaren Herren gerade zu einem Fußmarsch durch die Altstadt auf. Daher haben die vielen Polizisten die ganze Zeit die Altstadt unter Kontrolle gehalten. Wie bei solchen Anlässen öfter stehen wir wohl mit offenem Mund der ganzen Angelegenheit gegenüber. Da merkt Heidi plötzlich, daß das Etui ihrer Lesebrille weg ist. Aber da liegt es noch, 10 m weiter. In dem Moment bückt sich aber einer und steckt es ein. Nicht ahnend, in welche Gefahr ich mich begebe, renne ich Hallo rufend zurück und bekomme das Etui auch wieder. Wenn das nun als Attentatsversuch auf die Schönaich-Brozulats verstanden worden wäre, womöglich wären seitens der Polizei Schüsse gefallen...

Auf dem langen Marsch zurück kommen wir immer wieder an Antiquitätengeschäften vorbei. Das ist anstrengend. Ein zusagendes Speiserestaurant finden wir heute auch nicht so schnell. Dann begnügen wir uns mit einem ungarischen Buffetlokal, da kann man noch draußen sitzen.

Im Hotel setzen wir uns für eine Weile in die Eingangshalle, um die Beobachtungen vom Vorabend zu vertiefen.

Der Abend vergeht mit der überfälligen Erledigung der Kartenpost. Heidi läßt es sich nicht nehmen, die Schmalzserie "Hotel am Wörther See" zu sich zu nehmen. Die Wirklichkeit aber, die sieht ganz anders aus: unser Bundeskanzler mit seiner Frau im Urlaub hackt gerade Holz am Wolfgangsee (Super-Illu)!

Antiquarisches und Rückfahrt

Mit dem Warschau - Hoek van Holland Expreß wollen wir am Nachmittag um 15.30 Uhr am Zentralbahnhof die Rückfahrt antreten. Vorher muß noch manches erledigt werden. Nach dem Frühstück checken wir aus, bezahlen zähneknirschend die Rechnung unter der Devise "man gönnt sich ja sonst nichts". Nachdem das Zimmer geräumt ist, holen wir die Räder aus dem Gepäckraum, deponieren dafür den ganzen anderen Kram.

Nun folgt ein Abenteuer besonderer Art. Wir werden die Räder als Reisegepäck aufgeben, begeben uns also zum Bahnhof an den Gepäckschalter. Dort sitzen zwei Angestellte, die eine telefoniert, die andere ist nicht zuständig. Endlich kommen wir dran, legen unsere Fahrkarten vor, und harren der Dinge. Die uns bedienende Dame blättert erstmal unentschlossen in verschiedenen Büchern, macht sich Notizen, beginnt dann mit dem Ausfüllen eines Formulars. Mit langem Hals verfolgen wir die Prozedur. Da steht etwas von "Kehl am Rhein", Gebühren von über 1 Million Zlotys werden eingetragen. Unser Entsetzen löst sich aber auf, als ein Mann an den Schalter kommt, dessen Angelegenheit wohl parallel zu unserer in Bearbeitung ist.

Das dauert alles so seine Zeit, es müssen ab und an Pulks zur Beratung einberufen werden. Dann wieder die Ärmel aufgekrempelt, Formulare ausgefüllt, knallend abgestempelt, dann bekommen wir die Gepäckscheine. Damit müssen wir aber erstmal zum Zoll, wegen eines weiteren Stempels, die Zeichensprache ist leicht zu verstehen. Wo sich das Zollbüro befindet, müssen wir selbst herausfinden, das läßt sich sprachlich nicht klären. Aber wir haben Glück, nach einigem Treppauf Treppab haben wir es gefunden. Hier warten schon einige, einer reist in Lederwaren, unseren Kunden vom Gepäckschalter treffen wir auch wieder. Ansonsten eine sehr ruhige Atmosphäre, ab und zu durchquert einer mit einem Butterbrot oder einer Kaffeetasse den Raum.

Zur Entspannung geht Heidi vor die Tür, eine rauchen. Weiter passiert nichts. Als Heidi zurück ist, gehe ich zur Entspannung eine rauchen. Da kann man mal wieder sehen, was die Frauen so zuwege bringen. Ich habe meine Zigarette noch nicht alle, da kommt Heidi herausgelaufen, die Pässe werden gebraucht. Die habe ich im Brustbeutel. Im Galopp sind wir wieder drin. Heidi hat natürlich nicht geduldig wie ein Lamm herumgestanden, sondern ordentlich gemosert. Daraufhin hat sich der Herr in Lederwaren der Sache angenommen und einen Beamten für uns gewonnen. Dann dauert es wieder. Wir sind nun mittellos, Fahrkarten, Räder und Pässe sind unterwegs. Endlich werden uns die Papiere ausgehändigt, zurück zum Gepäckschalter.

Unsere Angestellte telefoniert angeregt, nimmt keine Notiz von uns. Heidi ist in Fahrt. Ich murmele sowas wie "wir müssen uns hier wie Gäste benehmen", das macht ihr keinen Eindruck. Mit den Gepäckscheinen wedelnd, geht sie auf die Angestellte los. Die legt ganz brav ihr Telefon beiseite und händigt uns die Fahrkarten aus. Dann telefoniert sie weiter - wir sind entlassen. Eineinhalb Stunden von unserem Urlaub haben wir für diese Sache geopfert. Wenn man es nicht hinterher erzählen könnte, wäre es schade um die Zeit, so aber haben wir ja wieder eine Story, die hiermit erzählt ist.

Es folgen noch einige. Erleichtert aber etwas sauer kommen wir wieder an das Tageslicht. Das verlassen wir gleich wieder und betreten durch einen Hintereingang ein gläsernes Hochhaus, durchqueren ein paar Gänge, finden uns dann in der Eingangshalle des 5-Sterne Hotels MARRIOT wieder. Alles Marmor, Spiegel, Kristalleuchter. In tiefen Ledersesseln lassen wir uns nieder, um das Treiben zu beobachten. Kalt ist es hier, nicht nur wegen der Klimaanlage. Vor dem Eingangsportal steht ein uniformierter Portier, der hat eine Phantasiemütze auf wie die Bewacher des Buckinghampalastes in London. Zum Totlachen. Dann kommt eine Drehtür, da käme man mit Fahrrädern gar nicht durch. Da fährt ein schwerer Mercedes vor, alles schwänzelt herbei, ein älterer Herr und eine jüngere Blondine entsteigen der Karrosse. Vielleicht Prominente? Sie betreten die Halle, wir können sie aber nicht als bekannt von Funk und Fernsehen einordnen. Nur einen Satz kann man aufschnappen: "So my Darling, this is my story" sagt die Blondine zu ihrem angegrauten Begleiter. Dann enteilen sie Richtung Fahrstuhl. Wie das wohl weitergeht und was dahintersteckt? Niemals wird man das erfahren.

Noch ein paar Stunden haben wir für Warschau. Wir schlendern die Marszalkowska entlang. Am Platz Konstytuci (benannt zu Ehren der ersten polnischen Verfassung) gönnen wir uns in einem Straßenlokal einen Kaffee. Am Platz Zbawiciela finden wir erst ein Antiquitätengeschäft, dann eine Kirche. In ersterem findet Heidi nun das Ihrige. Silberne Etuis, das eine ist eine Zigarettendose aus Moskau, 1890, das andere eine polnische Puderdose, 1918. Mit Stempeln und Expertise. Ich gucke nur blöde, verstehe ja nichts davon. Da sind Stempel in das Silber eingestanzt, alles echt. Aber wir haben kaum noch Zlotys, nur einen Reisescheck über 200 DM im Brustbeutel. Die würden reichen für die beiden Etuis. Heidi ist nicht mehr zu halten, halbherzig besichtigen wir auch noch die zuvor erwähnte Kirche, deren inneres Aussehen mir irgendwie entfallen ist.

Heidi drängt nun zu anderen Tempeln. Bank, Wechselstube oder ORBIS Büro, leider nimmt man nirgends unseren Reisescheck entgegen. Es bleibt uns nur übrig, einen Kilometer zu unserem Hotel zurück zu marschieren. Am dortigen Bankschalter kennt man uns schon, schließlich sind wir im Computer. Kein Problem mit den Millionen. Wieder einen Kilometer zurück, freudig begrüßt man uns in dem Antiquitätengeschäft. Sogar Sauerkirschen aus der Tüte werden uns angeboten. Der Handel wird perfekt, Heidi will runterhandeln, das klappt nicht. Ich gucke weiter blöde vor mich hin, kann dann aber dann die notwendigen Scheine zusammenblättern.

Die Etuis in den Rucksack, wieder den Kilometer auf der Marszalkowska zurück, das vierte Mal. So wird man mit einer Straße vertraut. Insgeheim feixe ich natürlich über diese Geschichte. Man stelle sich das einmal umgekehrt vor, ich hätte eine Rechenmaschine für meine Sammlung gefunden - dann wäre es sicher nicht weniger hektisch zugegangen.

So haben wir mühelos die Stunden bis 14 Uhr überbrückt. Wir kommen pünktlich im Hotel an, holen unser Gepäck ab. Das schleppen wir nun schnaufend zum Bahnhof, suchen unseren Bahnsteig auf und freuen uns auf den Zug nach Hause. Wie immer Zweifel: ist das Gleis oder der Bahnsteig mit der auf der Abfahrtstafel eingetragenen Nummer gemeint. Sicherheitshalber wechseln wir nochmal den Bahnsteig. Das ist zwar ein Fehler, lohnt sich aber.

Gerade fährt hier ein Zug nach Moskau ein. Kaum hat er angehalten, stürmen ganze Menschenhorden an die Türen und Fenster, man schleppt Gepäckstücke, die auf einen größeren Umzug schließen lassen. Ein paar Frauen gehe ich zur Hand, indem die unförmigen Packtaschen durch die Abteilfenster gezwängt werden. Alle Beteiligten sind dermaßen aufgeregt, mit schreckensstarren Augen hetzen sie hin und her. Dann fehlt auch noch ein Mitglied der Korona. Zwei Minuten vor der Abfahrt werden noch zwei Kundschafter auf die Rolltreppen gejagt. Eine andere Treppe kommen sie wieder herunter, springen in den anfahrenden Zug. Wir können nicht feststellen, haben sie ihn gefunden, handelt es sich womöglich um ein Kind? Aber einer bleibt zurück, winkt zum Abschied, dann wird das ja wohl alles seine Ordnung haben.

Als der Zug abfährt - nach Moskau - da hätte man auch Lust! Wir müssen aber doch wieder auf den anderen Bahnsteig, nachdem wir diese Story nun auch noch erlebt haben. Ein schönes Gefühl ist es ja doch - wieder nach Hause - und das aus Warschau ohne Umsteigen. Wir haben Platzkarten, Fensterplätze. In unser Abteil steigt noch ein Holländer mit seiner 10-jährigen Tochter ein.

Für die Fahrt hat Heidi an einem Bahnhofskiosk endlich eine deutsche Zeitung ergattert, ob es Frau im Spiegel oder Bild der Frau war, ist mir entfallen. Jedenfalls entdeckt sie beim Lesen bald eine Notiz mit Bild unter "Wer mit Wem" oder so. Eine vornehme jüngere Dame, Prinzessin von Schleswig Holstein, hat nach einem Besuch des Grabes von Kardinal Wyszinski in Polen einen Kulturanfall erlitten, indem sie eine Musikveranstaltung mit eigenen Malereien zu dekorieren geruhte. Es könnte fast sein, daß da ein Zusammenhang...

Nichts Genaues weiß man nicht. Nun ereignet sich - erstmal - nicht mehr soviel. Erst nach einigen Stunden, wir sind schon hinter Posen, erzählt uns der Holländer seine Geschichte. Seine Frau ist Polin, nahe der russischen Grenze beheimatet. Als die Oma starb, ist man im März zur Beerdigung gefahren. Dabei ist seine Frau erkrankt, mußte schnell operiert werden. Das ist wohl nicht ganz korrekt abgelaufen, die Wunde hatte sich entzündet, Nachoperationen waren notwendig. Nun pendelt dieser arme Mann zwischen Utrecht und der russischen Grenze, um seiner Frau auf die Beine zu helfen. In 6 Wochen soll sie mit dem Flugzeug zurück nach Holland kommen. Wir denken uns unser Teil, daß wir gesund hier sitzen.

An der Grenze gibt es noch ein Problem. Die frisch erstandenen Etuis habe ich schon im Brustbeutel, die Ausfuhr von Kunstgegenständen ist ja verboten. Aber wir werden da nicht behelligt. Nur die Tochter des Holländers trägt den Namen der Mutter, da werden die Paßbeamten stutzig. Könnte ja eine Entführung oder Mädchenhandel dahinter stecken! Sie blättern eine Weile in ihren Fahndungsbüchern, das arme Mädchen bekommt es mit der Angst zu tun. Wir beruhigen sie, so gut es geht, und dann ist auch alles in Ordnung.

Bis Berlin schlummern wir schon ein, auf dem Berliner Hauptbahnhof - gegen Mitternacht - gibt es einen langen Aufenthalt. Es geht irgendwann weiter, man schlummert wieder ein. Dann kommt der Schaffner, das kenne ich schon von der Rückfahrt von Danzig. Rücksichtslos wird die Tür aufgerissen, alle sind wieder hellwach. Nochmal werden die Fahrkarten kontrolliert, endlich zieht er ab, man schlummert wieder ein.

Die letzte Story, die unangenehmste unserer Reise, ereignet sich nun. Ein Farbiger, gepflegte Erscheinung mit Anzug und Krawatte, entert ohne alle Hemmungen das Abteil, ohne Rücksicht auf uns vier Schlummernde. Eine volle Bierdose in der Hand, Zigarette im Mundwinkel, über Ohrhöhrer lauscht er Madonna, wie er lautstark verkündet. Das kleine Mädchen schreckt aus ihrem Schlaf auf, sie ist blond, wir anderen interessieren den ungebetenen Gast gar nicht, er redet nur auf das Kind ein. "Ich liebe Madonna, Du siehst aus, wie Madonna" läßt er wissen. "Ich bin besoffen" sagt er mehrmals dem Kind in das Gesicht, dabei verschüttet er sein ganzes Bier auf dem Fußboden. Wir sitzen wie angenagelt, was soll man auch machen? "Berlin - Hannover, Hannover - Berlin" das sei sein Job, verkündet er weiter. Unsere Vermutung: ein Kurier in Drogenangelegenheiten. Es bleibt bei der Vermutung. In Magdeburg kommt der Schaffner in Sicht. "Chef kommt" sagt der Mensch und verschwindet ganz schnell. Wir atmen auf, ziehen alle erreichbaren Vorhänge vor die Abteilfenster. Ein Stöpsel von den Ohrhörern schwimmt auf dem Boden im Bier.

Kaum 5 Minuten später taucht die nächste Figur auf. Wieder ein Farbiger. Der bückt sich auf dem Gang und guckt - man muß sich das Bild mal vorstellen - von außen unter den Vorhängen hindurch in unser Abteil. Wie im Zoo, man gestatte den Vergleich, sieht das einen Moment aus. Wir haben aber gerade weder Humor noch Aufnahmebereitschaft, womöglich gehören die zusammen? Wir sagen nur "Besetzt, Occupied". "Ah, occupied", dann zieht er weiter.

Wir haben nun wieder Diskussionsstoff, schlafen ist sowieso nicht mehr drin. Es geht um das Ausländerproblem. Was einer kaputt macht, da haben viele andere seinesgleichen, die nette Menschen sind, zu leiden, so vielleicht dieser gerade abgewiesene Fahrgast.

Damit gehen die aufregenden Abenteuer ihrem Ende zu. Unsere beiden Fahrtgenossen werden nun den Rest der Nacht das Abteil für sich haben. Wir steigen morgens um vier Uhr bei sommerlichen Temperaturen auf dem Braunschweiger Hauptbahnhof aus. Heidi zuerst. Da juchzt sie schon auf, Verena holt uns ab. Umarmungen. Das hätten wir nicht gedacht!

Verena hat - wie könnte es sonst sein - ihr Fahrrad dabei, wir aber unsere nicht. Ein Taxi nimmt uns auf. Der Fahrer ist sehr interessiert, was wir erlebt hätten. So geht es uns auch in den nächsten Tagen: man kann es nicht erzählen - auf einmal - wo soll man anfangen, wo aufhören.


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